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Clinamen
für sechs Orchestergruppen (1996-2001)


Partiturausschnitt groß



"Wenn die Körper durchs Leere nach unten geradewegs stürzen mit ihrem eignen Gewicht, so springen zu schwankender Zeit und an schwankendem Ort von der Bahn sie ab und ein kleines, so, daß Du von geänderter Richtung zu sprechen vermochtest. Wären sie nicht gewohnt sich zu beugen (declinare), würd alles nach unten, wie die Tropfen des Regens, fallen im grundlosen Leeren, wäre nicht Anstoß entstanden noch Schlag den Körpern geschaffen worden. So hätte nichts die Natur schaffend vollendet."

(Lukrez, De rerum natura, II 217ff.)

Motto zu CIinamen I:

Goldener Schnitt und Silberblick. Zwei Haltungen zu sehen. Gold oder Silber Schnitt oder Blick Gewißheit oder ein leichtes Schielen Wissen oder Schwanken. Unschärfe macht deutlicher.

Motto zu Clinamen II:

Das Sehen von den Rändern her, wo der Blick tastend schwankt, bringt plötzlich, durch eine kleine Bewegung die unerwartete Differenz der Übereinstimmung zwischen Welt und Bild.

Motto zu Clinamen III:

Unschärfe ist die fast simultane Vervielfältigung von Möglichkeiten. Der eigene Schatten wird dann farbig, und würde es gelingen, so stünde man hellgrün neben sich.

Motto zu Clinamen IV:

Unschärfen offenbaren, daß Leben Bewegung ist.

[Texte von NANNE MEYER aus der Edition "Out of focus".]
 
 
 
   

Clinamen I versucht anhand ausgewählter Textfragmente von Epikur,die nach der Analogie von Buchstaben und Skalen des Aristoxenos in Klänge übersetzt wurden den Begriff des "Clinamen" darzustellen. Dabei entsprechen die sechs 0rchestergruppen je drei Lesungen des gleichen Textes analog der antiken Singstimme und je drei analog der antiken Instrumentalstimme. Die drei Lesungen weichen mikroskopisch voneinander ab, da sie die chromatische, enharmonische und diatonische Lesung des Textes sind. In der Instrumentation wird eine makroskopische Abweichung zwischen den Gruppen durch drei metrische Formen erzeugt. 1.) dirigiertes Metrum; 2.) vom Stimmführer der jeweiligen Gruppe dirigiertes Metrum und 3.) freies Metrum. Dieses ermöglicht das "Clinamen" sowohl für den Spieler, der streckenweise dem Dirigenten folgt oder nicht folgt wie für den Hörer, der die Relationen ähnlicher Texturen wahrnehmen kann.

Clinamen II läßt seine Töne wandern im Flechtwerk eines sechsstimmigen asymmetrischen Kanons. Angeregt von der pflanzlichen Lebendigkeit und üppigen Ornamentik der Gotik, zu finden beispielsweise in dem Nürnberger Sakramentshäuschen des Bildhauers Adam Kraft, folgt dieser Satz dem Lineament dieser Epoche, ihrem organischen Gewandstil und rhythmischen Schwung. Abweichungen ergeben sich hier aus dem kanonischen Weiterreichen und Verzahnen von permanent variierten Motiven innerhalb der Orchestergruppen.

Für Clinamen III stand die optische Unschärfe der Ikat-Technik Pate, ein bestimmtes Verfahren zum Einfärben mehrfarbiger Stoffe, das von Afrika und Ostasien bis Marokko verbreitet ist. Dabei werden die Fäden abgebunden und getrennt gefärbt, so daß die Farben des fertigen Stoffes zackenförmig verfließen. Dieses Ineinanderfließen ist musikalisch übertragen auf eine Melodie aus Usbekistan die in einen dicht gewobenen, rhythmisch diffizilen Satz verwandelt wird, dessen Partiturbild wie eine klangliche Realisation von flirrend-vibrierenden Ikat-Texturen sind.

Wie schon der Kopfsatz, folgt auch Clinamen IV einer Buchstaben/Ton-Analogie, hier werden sogar drei Texte 'vertont'. Auf der einen Ebene wiederum Textfragmente Epikurs - vertreten durch hohe Klänge -, auf der anderen zwei verschiedene griechische Bibel-Übersetzungen des Anfangs des Jeremias-Kapitels. Auch die rhythmischen Werte werden aus dem Text generiert. Abweichung durch Auffächerung des vielschichtigen Stimmgefüges erreicht: Mitunter erklingen nicht weniger als 70 Stimmen, verdichtet in bis zu zwölf Schichten.  

Daß etwas Bedrängendes jenseits dieses Geschehens zur Wahrnehmung kommen sollte, darauf deutet ein weiteres Lukrez-Zitat und das letzte zur Transkription verwendete Epikur-Fragment:

"Süß, wenn auf hohem Meer die Stürme die Weiten erregen, ist es, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen."

"Suave mari magno turbantibus aequora ventis e terra magnum alterius spectare laborem."

(Lukrez, De rerum natura, II 1,2)


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