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Diastasis & Diastema
für 2 Orchester ohne Dirigenten (1991/92)Diastasis & Diastema stellen die Entfaltung (explicatio) und Zusammenziehung (implicatio) der Zeit vor.
Oder: Es fällt auseinander, was zusammengehört - (Diastasis).
Es zwingt zusammen, was auseinander gehört - (Diastema).
Wie viele rätselhafte Bemerkungenzum Wesen der Zeit, die zu ergründen viele Philosophen unternommen haben, kommen auch die Plotin's immer wieder zu unlösbaren Situationen. Die Musik als Zeitkunst vermag es sozusagen als Experimentierbühne, diese Gedanken über die Zeit sinnlich erfahrbar werden zu lassen. So bemühe ich mich seit längerer Zeit in einem Werkzyklus ÜBER DIE ZEIT einige philosophische Gedanken zum Phänomen der Zeit in Musik umzusetzen. Festina Lente, das 1990 komponierte Streichquartett war der Versuch, das Schnelle im Langsamen und das Langsame im Schnellen aufzufinden. Ausgehend von Emblemen der Renaissance, die das Paradox des "Eile mit Weile" optisch vorführten, eine Schildkröte mit einem Segel, ein Delphin mit einem Anker, versuchte ich durch Unisono-Doppelgriffe und deren kleinste Abweichungen, die eine schnelle Vibration (Schwebung) zur Folge haben, das Schnelle im Langsamen aufzusuchen. Das Cello-Klavier-Duo Geduld und Gelegenheit war ein Vorläufer dazu, wo noch mehr strukturell das Stolpern der Geduld über die Gelegenheit aufgezeigt wurde. Die folgenden Stücke versuchten, diese Gedanken auch Klang werden zu lassen. Dazu gehört das bei den Wittener Kammermusiktagen 1993 uraufgeführte Streichtrio Distentio, das Gedanken des Augustinus zur Zeit thematisiert. Dort wird der Begriff der Distentio (= Ausdehnung, Anspannung, Zerdehnung, Zersplitterung, Zerstreuung) in einer Folge von Sätzen von intentionsloser bis fast existentieller Gerichtetheit so in Klang übersetzt, daß der Musiker selbst physisch die Anspannung (Handspreizung bei Doppelgriffen) erfährt. Dabei wird ein weiterer Versuch meiner "introvertierten Virtuosität"* vorgestellt. Ähnliche Techniken tauchen in vielen meiner Stücke auf. Schließlich wagte ich mich, inspiriert von John Cages letzten Stücken für Orchester ohne Dirigent an ein Stück für zwei Orchester ohne Dirigent Diastasis, das den ersten Teil zu Diastema bildet.
(* Die Technik der "introvertierten Virtuosität", wie ich sie nenne, hat unmittelbar mit diesen Gedanken des Zusammenhaltens auseinanderstrebender Teile zu tun, wie der Begriff Harmonia ursprünglich die Klammer meinte, die die auseinanderstrebenden Dachfirstbalken zusammenhält. Introvertiert deshalb, da die Energie, die bei herkömmlich verstandenem, virtuosem Spiel sich in äußerlicher Brillianz ergeht, hier zentriert ist auf eine Erzeugung oft paradoxer Ineinanderfügung widersprüchlicher Spielweisen. Die Überwindung dieser Schwierigkeiten erzeugt eine bestimmte Intensität, die dem Klang einen inneren Glanz, ein Oszillieren verleiht.)
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Diastasis
In diesem Stück gibt es keine Partitur. Die imaginäre Partitur (auf Skizzen vorhanden) zeigt Akkorde, die aber in der Ausführung zu Tonpunkten zerfallen. Die entsprechenden Instrumente der zwei identisch besetzten Orchester haben die gleiche Stimme zu spielen, was bei zunehmendem Auseinanderbewegen zu Echosituationen und zunehmend heterophonen Gebilden führt. Dahinter steht die Plotin'sche Idee, daß das Jetzt nicht erfahrbar ist und nur ein Abbild davon im Nacheinander des ursprünglich Gleichzeitigen herstellbar ist. In Diastasis ist mit dem fehlenden Dirigenten auch der "deus absconditus" (der verborgene Gott) symbolisiert durch das Fehlen einer Partitur abhanden gekommen.
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Diastema
Diastema heißt sowohl Zwischenraum, Intervall, wie auch Entfernung. Beide Bedeutungen werden thematisiert; der kontinuierliche Intervallfluß - das Stück ist eine Unisono-Studie - und die räumliche Entfernung der zwei Orchestergruppen, die trotz dieser Entfernung im Unisono spielen müssen. Plotin schreibt: "Der Abstand (diastema) nämlich ist nicht außerhalb der Bewegung, sondern nicht-gedrängte (kontinuierliche) Bewegung!" Was ist dieZeit? "Abstand der Bewegung in Zeit!"
In Diastema kann (muß aber nicht) ein Dirigent die Koordination der Unisono-Passagen ermöglichen. Daß nach dem Zerfallen der Strukturen in Diastasis, hier wieder ein Faden alles koordiniert, ist aber nur scheinbar versöhnlich. Da beide Orchestergruppen weit voneinander entfernt sitzen, wird ein Unisono-Spiel zu einem Drahtseilakt Das Fragile eines solchen Versuchs, zwei getrennte Orchestergruppen zu einer Melodie zusammenzuführen, wird auch durch die Intensität des konzentrierten Spiels hörbar gemacht Bei Plotin gibt es zu diesem Vorhaben eine Passage:
"Sollte aber einer den Abstand der Bewegung Zeit nennen, so meinte er nicht den Abstand der Bewegung selbst, sondern dasjenige wohin durch die Bewegung selbst sich erstreckt, sozusagen neben ihm herlaufend!"
Dieses Nebeneinander-Herlaufen und die kleinsten Schattierungen, die durch das Unisono-Spiel erzeugt werden - ein makelloses Unisono gibt es nicht - sind ein Mittel, um in einem Zeitfluß Zeit selbst hörbar zu machen. Die kleinen Ungenauigkeiten brechen also das monadische Unisono-Gebilde auf, relativieren es und lassen darin Zeit zur Anschauung/Anhörung kommen. Noch eine Bemerkung zu der Konstruktion der Unisono-Struktur. Es gibt 144 Phrasen mit jeweils wechselnder Instrumentation, jede Phrase hat acht Melodiezellen, die zwar In jedem Intervall zur nächsten Zelle springen können, die Zellen selbst bestehen aber immer nur aus einem der vier Intervalle: kleine Sekund, kleine Terz, Quint, große Sext. Es gibt prägnantere und weniger prägnante Zellen, je nach Kontext. So baut das Stück auch sein eigenes Gedächtnis auf, was den Hörer in einer Balance zwischen Vergessen und Erinnern halten kann. Je konzentrierter gehört wird, desto mehr Zellen verbinden sich miteinander. Die eigene Intensität des Hörens gibt dem Zeitfluß, der quasi objektiv durchlaufen wird, eine individuell immer andere Gerichtetheit. Das Durchdringen des Zeitflusses kann durch intentionales Hören erreicht werden. Je mehr intentio desto mehr distentio, Gespannthelt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Zeitflusses.
"Zugleich also war das Leben ein anderes, und das andere Sein des Lebens hatte auch eine andere Zeit. Das Auseinandertreten des Lebens nämlich nahm Zeit ein, und das immer weitere Vorwärtsdrängen des Lebens nimmt immer neue Zeit ein, und das vergangene Leben nimmt vergangene Zeit ein. Wenn man nun sagte: Zeit sei Leben der Seele in einer Bewegung, die aus einem Lebenszustand in einen anderen übergeht, schiene man da Wahres gesagt zu haben? Wenn nämlich Ewigkeit Leben in Ständigkeit und im Selben und vollendet-unendlich ist, die Zeit aber Bild der Ewigkeit sein soll, gemäß dem Verhältnis dieses Alls zu Jenem, dann muß man statt des Lebens dort ein anderes gleichsam namensgleiches Leben einsetzen, das der hiesigen Kraft der Seele eigen ist, und statt der intelligiblen Bewegung, Bewegung eines Teils der Seele; statt der Selbigkeit und Unwandelbarkeit und des Verharrenden: das nicht in dem Selben Verharrende, immer wieder Anderes Tätigende; statt des Abstandlosen und Einen; das durch Zusammenhang Eine als Nachbild das Einen; statt des Vollendet-Unendlichen und Ganzen: das Immer-im-Nacheinander-ins-Unendliche; statt des einig Ganzen: das teilweise und immer nur Künftig-Ganze.
So nämlich kann es das Vollendet-Ganze und in sich Gesammelte und vollendet Unendliche nachahmen, wenn es, immer im Hinzuerwerben, im Sein sein will: denn (nur) so vermag es das jenseitige Sein nachzuahmen."
(Plotin Enneade III 77/11)
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