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14

RESIDUA


Partiturausschnitt groß




Das, was übrigbleibt und zwar sowohl von größeren ursprünglichen
Texteinheiten als auch von der Gesamtheit eines früheren Werkes.
nennt Beckett Residua.

"Reduzieren, Reduzieren, Reduzieren, war mein Gedanke."
(Marcel Duchamp)


Residua - simulierte Fragmente, in denen jeder kleine Teil ein Beispiel liefert, was man überall findet. Beschwören des Flüchtigen. Als Ganzes sind Residua trotz ihrer reduzierten Form nicht in den Griff zu bekommen. Ihre scheinfragmentarische, torsohafte Erscheinung reizt die Vorstellung zu Ergänzungsleistungen, die zwar vom Text als Prozeß ausgelöst sind, aber als Phantom des Imaginären rivalisieren mit der schimärenhaften, ständig sich entziehenden Existenz der im Text verbalisierten Bilder. Erosion als formbildende Kraft. Die imaginären Bestände sind flüchtig, weil sie sich der eindeutigen Festlegung auf referentielle Gegenstände auf Dauer entziehen. Den beiden Duos des Zyklus Residua liegen jeweils ein Kinderlied zugrunde.

Dem erstenStück: "Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts."

Dem zweiten Stück: "Ich bin das ganze Jahr vergnügt."

14.1
Lied im Wüstenvogelton

Das Lied im Wüstenvogelton schrieb ich Anfang 1987 in der Villa Massimo Rom. Das Nietzsche Gedicht trug ich während meines Berliner Jahres 1986 (meiner "Winterwanderschaft") mit mir herum, und ich löste mich aus dem Paroxysmus dieser Zeit, indem ich dieses so melancholische Stück schrieb. Daß es sich auf ein Kinderlied bezieht, ist sowohl Abstreifen von etwas Überlebtem als Betreten von etwas Neuem. Dieses Neue fand ich in den Zeichnungen von Nanne Meyer, deren unendliche Assoziationsketten etwas von der Blochschen Utopie der Kindheit haben, wie er es am Ende seines "Prinzip Hoffnung" beschreibt. Diese Doppeltheit der Trauer und des Glücks fand ich in der Zeichenwelt von Nanne Meyer, und sie übertrug sich auf die Struktur der Komposition. Die Baßflöte tastet in unendlicher Langsamkeit die Töne eines Kinderlieds ab und fundiert den Dialog zwischen den beiden Instrumenten. (Vor Zeiten hatte ich auf der Straße Lieder, die Kinder sangen, mit dem Tonband aufgenommen: "Objets trouvés" mit allen Fehlern und Versingen und aus-der-Tonart-Geraten, darunter auch das Lied "Mein Name ist Hase. ich weiß von nichts".) Der Pianist pfeift das Original in kurzen Bruchstücken. Sonst taucht das Lied nur in Verwandlungen auf, die schließlich einem neuen Lied Platz machen, das am anderen Ende der "Winterwanderschaft" steht. Nietzsche schweigt über diesen Horizont...


14.2
The Ecchoing Green
für Violine und Klavier (1989)

Das Kinderlied: "Ich bin das ganze Jahr vergnügt" dient als Grundlage eines Prozesses der Umformung und Auflösung, wobei es an keiner Stelle in seiner Originalgestalt auftaucht. Schon in seiner ersten Präsentation zu Beginn des Stückes hat sich dieses eigentlich fröhliche Lied fast bis zur Unkenntlichkeit in ein melancholisches, kaum greifbares Thema, gleichsam eine verschwommene Erinnerung an die Kindheit verwandelt. Durch verschiedene Umwandlungsprozesse entfernt sich die Textur von dem ursprünglichen Kinderlied bis hin zum Vergessen. Das Sieb des Eratosthenes, ein mathematisches Verfahren zur Erstellung einer Primzahlentabelle, und der Einsatz von magischen Quadraten dient zur Umgestaltung der Tonhöhen des Liedes. Mithilfe musikalischer Echoformen weichen die Liedkonturen auf und Echo als Widerhall zwischen Erinnern und Vergessen, greift auch den Beckettschen Begriff des Echos, als "Residua" auf. Die Idee des Echos kann also durchaus auch literarisch-philosophisch betrachtet werden. Die vier verschiedenen Sätze entsprechen Musikalisierungen des Echos: Im ersten Satz schaffen Vorschläge und Unisoni Reperkussionen; das besondere klangliche Verhältnis des temperiert gestimmten Klaviers zur pythagoräisch gestimmten Violine wird als Intonations-Echo besonders im zweiten Satz hörbar: Oktavversetzungen werden zu Echos im dritten Satz der Wechsel von arco- zu pizzicato-Spiel im Violinpart wie auch die dort vorkommenden "Quasi-Unisoni" schaffen Echowirkungen im vierten Satz in dem aus dem durchgearbeiteten Kinderlied eine neue, schmerzlich intensive Melodie entsteht.

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