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5

       LOKALE MUSIK (1977-2004)


Partiturausschnitt groß

Das Projekt zeigt in seiner Gesamtheit die mannigfaltigsten Beziehungen von Musik und Landschaft auf. Als Ort der Darstellung dieser Beziehungen wurde Franken im allgemeinen und die Landschaft des Hinterlandes Fürth um die Stadt Cadolzburg im besonderen ausgewählt. Viele Recherchen wurden unternommmen, um existierende Sammlungen von Tanzmelodien zusammenzutragen und in langen Gesprächen mit Bauern dieser Gegend, alte Bauernhefte-Musikbücher, die teilweise bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichen (also bis zum Beginn der Notation von Volksmusik überhaupt), auffindbar zu machen. Diese zahlreichen Tanzmelodien - Walzer, Zwiefache, Schottisch, Mazurka, Rheinländer, Galopp usw. - bilden die Grundlage des Projektes LOKALE MUSIK.

Dieses Projekt gliedert sich in vier Zyklen, die im folgenden kurz dargestellt werden:  

T1 Ländler-Topographien für Orchester
T1.1    Phran
T1.2    Tophran


T2 Leichte Tänze

T2.1    10 fränkische Tänze sublimiert für Streichquartett
T2.2    25 Kärwamelodien substituiert für 2 Klarinetten
T2.3    20 Figurentänze transformiert für Streichmusik
T2.4    15 Zwiefache transzendiert für Gitarre
 
T3 Stille Tänze
T3.1    Erd-Wasser-Lufttöne für Klavier, Posaune &
           Streichglasspiel
T3.2    Riuti Rodungen und Wüstungen für einen Schlagzeuger
T3.3    Keuper für Streichquartett


T4 Wolkenorte für Harfe

T5 Seiltänze für Violoncello und Orchester

Epilog: Der Tanz und der Schmerz
für  Flöte, Oboe, Klarinette, Hammerklavier, Streichquartett
(1981/2005


 

5.1
Ländler-Topographien (1977) für Orchester

(Lokale Musik T1)
 

Das ca. 50minütige Orchesterstück Ländler-Topographien, stellt die Beziehungen von Melodien und Landschaft her. Einerseits, wie das Charakteristische einer Landschaft, die Vegetation, das Bodenrelief, die geologischen Phänomene, das Klima, die Musik über die Zeiten hinweg gestalten und modifizieren, wie sich in Melodien bereits charakteristisches von Landschaften abbildet. (Also die innere Beschaffenheit von Melodien als Träger von Landschaftstypischem.) Andererseits, wie Melodien als immer wieder neu durch die Beschaffenheit der Landschaft Belebbares fungieren. Der erste Teil T1.1 Phran des Orchesterstücks Ländler-Topographien stellt die innere Landschaft einer Melodie dar, kehrt sich nach außen und projiziert sie in den Raum des Orchesters.

Eine Neutralisierungsmatrix ermöglicht es, den verschiedenen Ausprägungen der Idee Ländler ihre eigene Klanglichkeit zu geben, d. h. das Subjekt des Komponisten wird zu einem Teil neutralisiert, daß es im besten Fall Aufgabe des Komponisten ist, als Mittler und Vermittler dieser Mechanismen, der Neutralisierung und Darstellung der inneren Potentiale einer Melodie durch Instrumentation, zu fungieren.

Der zweite Teil T1.2 Topan. verfährt gerade umgekehrt: Auf die Melodien wird Landschaft projiziert. Die Beschaffenheit der zwölf Landschaften, in denen die Ländler vorkommen, wird durch ein dem ersten Teil entgegengesetztes Instrumentationsverfahren dargestellt. Die Beschaffenheit der zwölf Landschaften, in denen die Ländler vorkommen, wird durch ein dem ersten Teil entgegengesetztes Instrumentationsverfahren dargestellt. Zur Analyse der zwölf Landschaften wurden geologische Karten der Fundorte der Melodien benutzt.

T1.1 Phran und T1.2 Topan verhalten sich wie innere und äußere Landschaft und so wird im dritten Teil T 1.3 Tophran die Synthese der ersten beiden Verfahrensweisen dargestellt. Dies ergibt eine dichte Mehrstimmigkeit, die teilweise bis zu 30-stimmigen hoketusartigen Verflechtungen und Ablösungen von rhythmischen Zellen reicht und die Originalgestalt der Ländler immer mehr durchscheinen läßt. Schließlich die blanke Präsentation des Materialreservoirs der beiden Obertonreihen, die die harmonische Grundlage bilden. Darstellung der Leere, der blanken Materie als Beschluß des Orchesterstücks.


5.2
Leichte Tänze

(Lokale Musik T2)

5.2.1
10 Fränkische Tänze

sublimiert für Streichquartett

Es steht ein Gesamtrepertoire von 64 natürlichen Flageoletts zur Verfügung, die durch eine geänderte Skordatur ermöglicht werden, um Originalmelodien zu reproduzieren. Die Melodien werden durch dieses Repertoire aufgefangen, verworfen, aus ihrer temperierten Stimmung in die reine Stimmung versetzt. Dies produziert eine Natur-Kultur-Reibung und archaisiert zugleich die Melodien.
 

5.2.2
25 Kärwamelodien

substituiert für zwei Klarinetten

wendet ein weiteres physikalisches Phänomen an: Die Differenztöne. Was zu hören ist, ist ein zweistimmiger Satz, dessen Differenztöne die Originalmelodie ergeben. Schattenhaft taucht sie auf, verschwindet, ist nur andeutungsweise zu hörbar.
 

5.2.3
20 Figurentänze

transformiert für Trompete 2 Klarinetten, 2 Violinen, Kontrabass

stellt den umgekehrten Prozeß dar. Ein sechsstimmiger Satz als Ergebnis von Kombinationstönen erster und zweiter Ordnung, reusltierend aus einem zweistimmigen Original, das nicht hörbar ist.
 

5.2.4
15 Zwiefache

transzendiert für Gitarre

Each harmonic chord is the result of a transformation process of pitch and duration onto each other, so that the original folkdance melodies which are the basis of the piece become trancended. The dances have changing metres, that explains the name Zwiefache (double metres). The empty strings of the guitar represent the six diatonic pitches of these dances, without the seventh (the leading tone in c-major). e-a-d-g-c-f. The harmonics 3rd, 4th, 5th, 8th, represent the durations which the dance melodies are made of:

Each chord is the sum of pitch and duration projection of one bar.


5.3
Stille Tänze

(Lokale Musik T3)
 

5.3.1 Erd-Wasser-Lufttöne

für Klavier, Posaune und Streichglasspiel.

Die Melodien, die diesem Zyklus zugrundeliegen, entstammen einer Sammlung aus Eichstätt.

In Bundschuhs geographischem, statistisch-topographischem Lexikon von Franken (Ulm 1799) ist unter Eichstätt u.a. über die Bodenbeschaffenheit zu lesen: "An Erzen findet man im Eichstättischen nichts als Bohn- und Klaub, dann Eisenstumpf und Sanderz nebst vielem Schwefelkiesel, desto mehr kann aber dieses Fürstenthum von Kiesel, Thon und vorzüglich von Kalkgeschlechte aufweisen."

Die Bodenbeschaffenheit findet also unvermittelt Eingang in die Musik. Dies produziert eine paradoxe Situation, die diesen Zyklus fast unspielbar macht. Die Tonhöhen des Originalsatzes werden transformiert, die Rhythmen mit Pausen durchsetzt, so daß eine Art Erosion am Original stattfindet. Beim Aufeinandertreffen gewisser Rhythmen mit gewissen Tonhöhen fällt dieser Ton weg, oder der Ton wird transformiert. Das Transformationssystem der Tonhöhen funktioniert folgendermaßen:

Nehmen wir an, im Original steht eine große Septime in der Tonart C-Dur, also H. Diese Septime wird auf einen Quintenzirkei über C, d.h. C-G-d-a-e'-h'fis" usw. projiziert. Zu diesem Ton des Quintenzirkels wird noch eine weitere Septime hinzu addiert, so daß aus dem h' des Quintenzirkeis ein ais" wird. Weiterhin stellt der Posaunenteil "Lufttöne" wiederum eine Art Erosion an dem Klaviersatz nach dem gleichen Prinzip dar . Es entsteht dabei eine noch weitere Spreizung des Tonraums. Die Posaune pendelt laufend zwischen den extrem höchsten und tiefsten Tönen hin und her. Das Stück stellt somit eine zweifache Erosion dar, die Erosion eines Originals und die des bereits transformierten Originals, so wie Wind Gestein durch die Zeiten formt.

In diesem Trio findet Natur unmittelbar Eingang in den Korpus der Instrumente, die die Melodien darstellen. So sollen die Saiten des Klaviers mit Tonerde belegt werden, um den Klang erstickt, fast perkussiv wirken zu lassen. Der Posaunist muß mit so wenig Energie intonieren, daß alle Töne immer auf der Kippe zwischen Luft und Ton sind.
 
 

5.3.2
Riuti

Rodungen und Wüstungen für einen Schlagzeuger

Rodungen: Schritt im menschlichen Bewußtsein vom Beherrschtsein der Natur zum Beherrschen der Natur. Höhere Bewußtseinsstufe (?) hat zur Folge, die Natur zu nutzen (Jetzt spätestens sie auszunutzen!) Zunächst hatte dies Folgen in der Kultivierung von Gras. Hafer und Korn. Im Züchten von Pflanzen zu Nahrungsmitteln, anstelle von nomadisierendem Suchen nach Nahrung. Die Rodungstätigkeit der ersten Siedler zeigt sich heute noch in den Flurnamen, deren Wortstamm den althochdeutschen Wort für Roden: Riuti enthält. Namen wie "Reuth" oder "Neugereuthäcker" werden zum Gegenstand des Schlagzeugstücks. Die Namen werden quasi zurückübersetzt in die amorphe Materie, die sie ursprünglich bezeichneten. Die Benennungen der Landschaft werden aufgelöst. Die Namen der Wüstungen - eine rückläufige Bewegung; die

Auflösung der Siedlungen, der Verfall des der Natur abgerungenen Bodens - werden im zweiten Teil in Klang rückübersetzt um schließlich den Kreis des Prozesses Natur - Rodung - Kultur - Wüstung - Natur zu schließen, der in Riuti dargestellt wird. An den formalen Wendepunkten spricht der Schlagzeuger die Namen zusammen mit den übersetzten Klängen. Auch die in Klang aufgelösten Namen lösen sich schließlich in Luftschläge auf, die die Wucht des einstigen Eingriffs des Menschen in Natur ahnen lassen.

5.3.3
Keuper

für Streichquartett

Das Stück versucht den Charakter des Gesteins Keuper wiederzuspiegeln. Dieses Gestein liegt der untersuchten Landschaft zugrunde und wird allgemein als ernst, verschlossen, karg, wüstenhaft bezeichnet, was etwas von der Introvertiertheit der Landschaft vermittelt. Gegenstand werden Zwiefache, die in einer, Synopsis übereinandergeschichtet sind. All die Töne fallen weg, die mit denen eines anderen Zwiefachen identisch sind, übrig bleiben, also die Ausnahmen, die Außenseiter. Diese durch den Auflösungsprozeß erhaltenen Strukturen werden weiter aufgelöst durch Zuordnungen zu Spielweisen, die alle Klänge an der Grenze zur Stille produzieren. Eine Neutralisierungsmatrix ordnet den jeweiligen Tonhöhen/Rhythmen Konstellationen unterschiedliche Spielweisen zu.
 

5.4
Wolkenorte

für Harfe
 

(Lokale Musik T4)

 
"Es will in den Grund, in die stille Wüste, in die nie Unterschied hineinlugte. Denn dieser Grund ist eine einfache Stille, die in sich selbst unbewegt ist . Von dieser Unbeweglichkeit werden alle Dinge bewegt.(...)

Man soll laufen in den Frieden. Man soll versetzt und hineingestoßen werden in den Frieden und enden im Frieden."

(Meister Eckhart)

Im Stück Wolkenorte, das ich für die Harfenistin Gabriele Emde geschrieben habe, werden die Beziehungen zwischen Himmel und Erde dargestellt, wie sie sich in vielen Kulturen in der Zahlenrelation 3 : 4 ausdrückt. Die Schottisch-Tänze, in der untersuchten Landschaft die typischste Tanzform, werden durch 3 : 4 Temporelationen übereinandergeschichtet und so mit sich selbst transformiert zu Klängen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde liegen.

Die mannigfaltigen Beziehungen dieser Grundrelationen Himmel/Erde 3: 4 werden abgetastet, von Akkorden der Schmelzpunkte von Himmel und Erde (Einheit) über die Antinomien der 3 : 4 Relationen (Trennung) bis zur Verschmelzung der beiden nebeneinander herlaufenden Strukturen, wo die Gegensätzlichkeit schließlich aufgehoben wird bis zu stillen Klangwolken. Wolken als Mittler zwischen Himmel und Erde. Das Stück Wolkenorte lehnt sich an den Mythos der Trennung von Himmel und Erde an, die die ursprüngliche Harmonie dieser beiden Elemente gestört hat und es nun die Aufgabe menschlicher Aktivität ist, die Harmonie wiederherzustellen.

Claude Levi-Strauss weist in seiner Mythologica (Frankfurt 1976) nach, daß das Wasser als Mittler von Himmel und Erde gesehen wird. Andererseits ist die Harfe in den Musikmythen oft dem Wasser zugeordnet. (Gabriele Emde. Die Harfe zwischen Mythos und Wirklichkeit. Köln 1980) Das Stück Wolkenorte zeigt wie sich in Musik Elemente der Natur abbilden. Wie dicht Musik mit Natur verknüpft sein kann. Schließlich liegt dieses Mimetische jeder Kulturäußerung auch heute, auch in der Volksmusik der Landschaft, die Gegenstand des Projekts Lokale Musik ist, zugrunde. Nur ist diese Bewußtheit verschwunden. Sie aufzudecken dient Wolkenorte.

5.5
Seiltänze
 
für Violoncello und Orchester (2002-2004)

Das Stück ist mit inniger Ironie vorzutragen. Nach Novalis ist innige Ironie „der Lichtpunkt des Schwebens zwischen Gegensätzen“.Die Gegensätze Originalmelodie - Orchestration als autonome Körper anzunehmen, war mir ein Anliegen. Es geht darum, daß die Melodien der Originaltänze - 30 Dreher - durch ein Zögern, ein Stocken, ein Verlagern, so verdreht werden, daß eine gewisse Irritation geschaffen wird, die meines Erachtens Ironie im strengen Sinn erzeugt.

Es geht darum, ein Feld zu schaffen, in dem sich nicht nur der Komponist als da Subjekt sieht, sondern auch die möglichen Hörer sich frei bewegen können mittels aktivem Zuhören. Ich habe versucht Musik zu schreiben, die vieles zuläßt, nicht zu sehr das Original festschreibt, sondern durch Figurationen, die echohaft im Orchester auftauchen und verschwinden, verzweigte Felder zu schaffen.So wird die Originalmelodie, die festgeschriebene Struktur, aufgebrochen. Was entsteht, ist ein loses Nebeneinander, Miteinander zwischen Solist und Orchester, vielleicht. Meine persönliche Aussage entzieht sich im gleichen Augenblick, in dem sie etwas andeuten will wie ein stetes Pendeln meiner Nähe und Ferne zu den Originaltänzen selbst. Ich greife hier wieder die Auseinandersetzung mit der Landschaft meiner Kindheit auf wie ich es bereits in Lokale Musik 1-4 vor jetzt einem viertel Jahrhundert getan hatte,

Das Grundthema: Annäherung, Entfernung, Distanz, Aufgehen, versucht bis in das kleinste Atom der Partitur zu realisieren, fern jeglichen programmatischen Wollens, aber mit der Überzeugung, daß das Material selber ab einem gewissen Punkt das einlösen kann, was Themen als Symbole sonst tun, die eben nur durch geschichtliche Konditionierung verstanden werden. Wichtig ist also durch Distanz und Ironie der Musik Leichtigkeit zu geben, die stets den Hörer in einem Schwebezustand lassen zwischen Erkennen und Verkennen, Identifizieren und Verirren, im Grunde genommen ein Labyrinth einzurichten, in dem sich der Hörer aktiv bewegen und seinen eigenen Weg suchen kann. Mit meiner Musik möchte ich dem Hörer Möglichkeiten geben zu hören und ihnen nicht die im Werk eingeschriebene, individuelle Leidenskurve eines Komponisten aufzuzwingen. Dieses Gängelei hat die Neue Musik bis heute nicht geschafft aufzulösen. Dies zu versuchen, ist mein kleiner Beitrag.

Im Grunde genommen geht es um einen neuen Subjektbegriff, den ich seit etwa dreissig Jahren versuche in meiner Musik zu realisieren. Der alte Subjektbegriff kommt aus dem Genügen an dem historischen Selbstverständnis des Komponisten, daß sein Umgang mit Klangmaterie ein kontrollierendes, domestizierendes ist und eindimensional aufeinander bezogen wird.

Als Gegenentwurf habe ich versucht, diese "innige Ironie" als einen möglichen Weg zu einem neuen Subjektbegriff zu formulieren, wo das Subjekt im Grunde genommen zurücksteht und einen Raum öffnet, in dem die Materialien ihre Autonomie selbst ohne Änderung ihrer Eigenkraft aufeinander projizieren und in ein mehrdeutiges Feld spiegeln Wie gezeigt wurde, sind Original und Orchestration autonome Gebilde mit ganz eigenen Gesetzlichkeiten des Ent- und Verstehens. Die Originale als Vektoren einer Orchestration stehen quer zu dessen Verwerfungen und Schichten. Eine komplizierte Technik der Vektoriserung, die hier nicht weiter ausgebreitet werden soll, ermöglicht aus einer Einstimmigkeit einen vielstimmigen Orchestersatz herzustellen.

Der Komponist, der motiviert wird durch die Eigenkraft der Materialien, erzeugt paradoxerweise eine lmmaterialisierung. Eine Immmaterialisierung, die Idee und Musik (Original und Orchestration) so aufeinander bezieht, daß man nicht die Autonomie beider durch rethorisch dramaturgische Reglementierung zerstört. Dadurch entsteht, - wenn man sich das Ganze von einem Feld umgeben denkt, das wie ein Spiegelkabinett beschaffen sein kann -, ein Raum voller Spiegel, auf denen die Vektorstrahlen reflektiert werden wie auf Projektionsflächen, auf denen sich Facetten dieser Idee-Musik-Bezogenheit abbilden. Es gibt eine Vielheit von Punkten, die jeweils eine Möglichkeit dieser Projektion darstellen, d.h., ein rezipierendes Subjekt ist nicht mehr gezwungen, eindeutig zu diesem Gebilde Stellung zu nehmen. Es kann sich verschiedene Spiegelsituationen als einen Ausschnitt eines totalen Werkverständnisses erarbeiten. So ergibt dies ein aktives, ganz anderes Erarbeiten, auch ein Mündigwerden des Subjekts. Es geht dann nicht mehr um das rhetorische Vermitteln einer subjektbesessenen Sicht, die immer eine ganz bestimmte Botschaft mit den suggerierten Emotionskurven verbinden möchte.

Einerseits versuche ich Raum zur Verfügung zu stellen, der mehrdeutig ist. Nur so kann Transzendenz entstehen, indem das Subjekt sich entzieht und im gleichen Augenblick etwas anderes zuläßt, es dadurch nicht das Ergebnis besetzt, sondern nur ein Spannungsfeld produziert. Das Ergebnis ist etwas drittes, vielleicht mit dem „subrisio saltat“ ( das Lächeln tanzt) aus Rilkes fünfter Duineser Elegie beschreibbar. Den Ironiebegriff, wie er von Schlegel und Novalis formuliert wurde, als das Schweben zwischen Gegensätzen unvermittelt auszuhalten, ermöglicht erst Poesie. Die Poesie ereignet sich aber im Rezipienten und wird nicht als ein Programm vorgegeben. Das ist ein entscheidender Ansatz auch in meinen anderen Stücken, weshalb ich mit sehr vielen Folien und magischen Quadraten arbeite, die wie in einem Spiegelkabinett in verschiedenen Winkeln aufeinander gelegt werden, und so ein immer vielschichtiges Feld entstehen kann, was zunächst auch mich überraschen kann.

Andererseits suche ich Begrenzungen, um nicht das in den leeren Raum schießende Objekt zu sein, das meint, Freiheit entstehe dann, wenn man sich keine Grenzen setzt. Ich suche mir bewußt Grenzen und ganz stringente Grenzen, die aber nicht künstlicher Natur sind, wie in einem Eifenbeinturm, man „käfigt“ sich also nicht ein. Die Grenzen sind eher, und das ist eben die Schwierigkeit, der Versuch, sie so zu bestimmen, daß sie durchlässig sind, durchlässig zu einem allgemeinen Verständnis hin. Deshalb benutze ich ein Tonquadrat allgemeinster Natur - aus Quintenzirkeln und den jeweiligen Obertonreihen -, benutze Proportionen der Periodizität, die aus Volkstänzen abgeleitet sind, die sich aber wiederum nicht so aufdrängen, daß ein lokales Couleur einen wieder einengt, sondern eher anonymisiert. Es werden Energien freigesetzt, die jenseits eines Parfüms, eines Ortes liegen, die einfach versuchen, die Wände so durchlässig zu machen, daß eben kein abgeschlossener Raum entsteht. Andererseits braucht man diese Begrenzung, denn, was für Mozart die Kadenz war, ist für uns als formbildende Kraft unwiederbringlich verloren. Wir versuchen uns deshalb unsere eigenen Kadenzen zu schaffen. Wir müssen unsere Felder schaffen, in denen wir uns bewegen. Wir brauchen die Begrenzung, um die Formulierung des Willens oder des Nicht-Wollens immer an einer Objektgrenze spiegeln zu lassen.

Das ist im Grunde, was Levi-Strauß in seinem Essay "Über das wilde Denken"(Levi-Strauß, Das wilde Denken, Frankfurt/Main 1973, S. 302/303) schreibt:
"Das wilde Denken ist seinem Wesen nach zeitlos; es will die Welt zugleich als synchronische und diachronische Totalität erfassen und die Erkenntnis, die es daraus gewinnt, ähnelt derjenigen wie sie Spiegel bieten die an einander gegenüberliegenden Wänden hängen und sich gegenseitig (sowie die Gegenstände in dem Raum, der sie trennt) widerspiegeln. Unzählige Bilder entstehen gleichzeitig und keines ist dem anderen genau gleich und folglich erbringt jedes von ihnen nur eine Teilkenntnis der Dekoration und des Mobiliars, deren Gruppierung durch unveränderliche, eine Wahrheit ausdrückende Eigentümlichkeiten charakterisiert ist. Das wilde Denken vertieft seine Erkenntnisse mit Hilfe von 'imagines mundi'."


 
Epilog: Der Tanz und der Schmerz
für  Flöte, Oboe, Klarinette, Hammerklavier, Streichquartett
(1981/2005)

 
An jedem Vorabend des Sabbats pflegte Rabbi Chajim von Kosov, Rabbi Mendels Sohn, vor seinen Getreuen zu tanzen, entflammten Angesichts, und alle wußten, daß jeder Schritt hohe Dinge meinte und hohe Dinge wirkte.
Einmal fiel ihm beim Tanzen eine schwere Bank auf den Fuß, und er mußte vor Schmerz innehalten. Später fragte man ihn danach. „Mir scheint“, sagte er, „der Schmerz kam, weil ich den Tanz unterbrochen hatte.“

Martin Buber „Die Erzählungen der Chassidim“ Zürich 1949 S.550

 


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