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ÜBER DIE ZEIT
17.1
Festina Lente
für Streichquartett (1990)
Festina Lente (Eile langsam) ist eine häufig gebrauchte Hieroglyphe der Renaissance, die ihre Anfänge im antiken Rom hat und heute noch in Steinfries-Fragmenten vorzufinden ist; so auch in der Fontane delle Tartarughe wo Jünglinge einen Fuß auf Delphine setzen, während sie mit der Hand Schildkröten über den Kopf in eine Brunnenschale heben: Das Schnelle wird gezügelt, das Langsame erhoben. In der Hypnerotomachia des Poliphilius finden sich zahlreiche Bildhieroglyphen, die die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Schnellem und Langsamen darstellen: ein um einen Anker gewundener Delphin; eine Schildkröte, die ein Segel trägt; ein Delphin, der an eine Schildkröte gebunden ist; ein Schmetterling auf einem Krebs; ein Falke mit Uhrgewichten im Schnabel; ein Luchs mit verbundenen Augen. Edgar Wind analysiert diese Bilder (in: Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt 1981): "Diese und zahllose andere emblematischen Kombinationen sollten die Lebensregel versinnbildlichen, nach der man durch Ausbildung einer Kraft, in derSchnelligkeit und Beharrlichkeit gleichermaßen entwickelt sind, Reife erlangte. Auch ein Mantegna zugeschriebenes Bild geht mit diesen Emblemen um, setzt sie - in einen Handlungszusammenhang, der sich mit unserem Idiom "die Gelegenheit beim Schopf packen" beschreiben läßt. Dort wird ein Jüngling, der auf einer rollender Kugel balanciert und einer Frau zustrebt, die ihm den Haarschopf hinwendet, von einer hinter ihm auf einem Quader stehenden Frau zurückgehalten. Letztere Patientia (Geduld) versucht den Protagonisten von der 'Occasio' (Gelegenheit) abzuhalten, da sie befürchtet, die günstige Gelegenheit zu ergreifen könne in 'Poenitentia' (Reue, Rache) umschlagen."
In der Tat gibt es zahlreiche Abbildungen der Renaissance, auf denen Geduld, Gelegenheit und Reue zusammen erscheinen. Diese drei Begriffe überschreiben die ersten drei Sätze des Streichquartetts, das versucht, das Schnelle mit dem Langsamen auf mehreren Ebenen miteinander zu verbinden. Die erste ist die des Tempos Langsam/ Schnell/Langsam im Nacheinander. Die zweite ist die des Miteinander durch die zur Anwendung kommenden Doppelgrifftechnik, die von der ersten zur letzten Note durchgehalten wird, was das Stück vor sehr schwierige Interpretationsaufgaben stellt. Die Doppelgriffe erzeugen die Intervalle:
Großer Ganzton 9/8 (204 Cent), kleiner Ganzton 10/9 (182 Cent), Großer Halbton 16/15 (112 Cent), kleiner Halbton 25/24 (76 Cent), Quasi Unisono 80/81 (Pythagor. Komma), Unisono 1/1.
Diese Intervalle ermöglichen das paradoxe Ineinandergreifen von Schnell und Langsam:
In dem langsamen ersten Satz Patientia erzeugen die engen Intervalle einen schnellen Puls, den der Interferenzen und Schwebungen. Diese, schnelle lnnenschwingungen bei langsamen Außentempo, erfährt im zweiten Satz Occasio seine Umkehrung. Dort haben über einem schnellen. Außentempo die Unisono-Doppelgriffe, die Innenschwingungen (idealiter) aufgehoben. Dieser Satz hebt auch die zunächst noch zwischen den Instrumenten erzeugten Vierteltonrückungen auf und strebt einem Quartett-Unisono zu, über den in Töne übersetzten Satz: "patientia ornamentum, custodia et protectio vitae est". Diese Passage bildet den Beginn des dritten Satzes Poenitentia, der den Charakter des ersten Satzes aufgreift, jedoch als fatales Eingeständnis der Unumkehrbarkeit der einmal verlassenen Haltung. Der vierte Satz Regressus in Infinitum ist die anstelle der zugestandenen Unumkehrbarkeit der Zeit tretende Öffnung eines Innenraums, der nirgendwo Halt sucht, aber im Haltlosen neue Fixpunkte findet. Ähnlich dem Zenonschen Paradox von Achill und der Schildkröte teilt sich der Abstand zweier Doppelgriffglissandi im Unisono unaufhörlich. Ein Unisono, das ja keines mehr sein kann, sobald es sich bewegt, seinen Tonort ständig wechselt. Die wenigen Ausbrüche ins Schnelle/Laute finden immer gleich wieder zurück ins Langsame/Leise, dessen Innenräume zunehmend, richtet man nur sein Hören darauf, von einer "unerhörter" Dichte sind. Alle vier Instrumente spielen schließlich ihre Unisono-Doppelgriff-Glissandi im "Unisono". Eine scheinhafte Einheit im Äußeren öffnet erst eine wirkliche Vielheit im Inneren. Das Unisono findet, obwohl vorgeschrieben nicht statt. Im Gegenteil, der Versuch, es zu erzeugen, erzeugt die sich widerstrebenden Schwingungen und so die klangliche Dichte der Schwebungen. So gestaltet sich der Versuch, das Paradox des Festina lente zum Klingen zu bringen.
Das Hören dieses Stücks braucht dann auch ein Sich-Lösen von der Oberfläche des äußeren Charakters, ja es sollte eine Art Kontrafaktur-Hören versucht werden. Beim Langsamen das Schnelle, beim Schnellen das Langsame herauszuhören. So könnte auch der Hörer sich aktiv in das, für das, gegen das Paradox einsetzen.
17.2
Distentio
für Streichtrio
Das Stück entstand 1992 und ist Heinz-Klaus Metzger zu seinem sechzigsten Geburtstag gewidmet.Es ist das zweite Stück einer Reihe ÜBER DIE ZEIT nach, Festina lente. Die Komposition beruht auf Gedanken, Meditationen und Erwägungen des Philosophen Aurelius Augustinus über die Zeit und insbesondere über den, Begriff distentio, die er in seinen Confessiones (ca. 396 n. Chr.), speziell im XI. Buch, niedergeschrieben hatte. Den vier Bedeutungsebenen der Lesarten dieses Begriffs entsprechen vier der fünf Sätze. Der Mittelsatz jedoch, das Zentrum der Komposition, ist mit Töpferscheibe überschrieben.
Jede der vier Bedeutungsebenen - Ausdehnung, Zerspannung, Zerrissenheit und Zerstreutheit führt auf eine Referenzstelle bei Augustinus zurück, aber auch das der Töpferscheibe beruht auf seinen Gedanken.
Was bei dem Begriff "distentio" fasziniert hat, ist die Gespanntheit zwischen den Zeiten, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aber auch das Paradox ihrer Gleichzeitigkeit und damit ihrer Überwindung, wie es im Denkmodell der Töpferscheibe zum Ausdruck kommt. Die Erfahrbarkeit der Zeit ist in diesem Modell eine Art innerer Anschauung oder, noch einfacher gesagt, wie ich die Zeit empfinde, so ist sie. Eine typische Haltung für Kompositionen aus diesem Umkreis ist es, den philosophischen Gedanken, der Anlaß ist fürs Komponieren ist, zu materialisieren; die Spannnung zwischen den Zeitebenen werden unmittelbar in die Hand des einzelnen Interpreten gelegt und macht ihre Gleichzeiitigkeit (wie in einem Realität gewordenen Paradox) physisch erfahrbar - zumindest für die Spieler. Das wird erreicht, indem jeder Musiker gleichzeitig einen Flageolett-Ton und ein Glissando auf der danebenliegenden Saite spielt, das sich von der unmittelbaren Nachbarschaft des Flageolettgriffs bis zur entferntesten Position, also bis zur größten Spanne der Hand, hinzieht. Dazwischen werden noch Pizzicato-Töne eingestreut. Auch die Töpferscheibe erfährt eine Materialisierung, denn in die Runde der Spieler wird eine echte Töpferscheibe gestellt, die quasi unhörbar durch die Berührung mit den Bögen verlangsamt oder gestoppt wird. Man könnte die Glissando-Bewegung mit der Vergangenheit (memoria) in Verbindung bringen, die Pizzicato-Töne mit der Gegenwart (contuitus) und die Flageoletts - als die unwirklichsten Klänge- mit der Zukunft.
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Mein Leben ist eine Ausdehnung.Ad 3
...das Leben dieser meiner Handlung zerspaltet sich...Ad 4
Wie ferner: wenn alle Himmelslichter erlöschten und sich nur noch das
Rad eines Töpfers drehen würde, gäbe es dann keine Zeit, durch welche wir die Bewegungen dieses Töpferrades messen könnten? Könnten wir dann nicht sagen, es vollende seine Umläufe in gleichen Zwischenräumen, oder, wenn es sich bald langsamer, bald schneller drehen würde, die Umlaufzeiten seien bald länger, bald kürzer?Ad 5
Meine Gedenken, das innerste Leben meiner Seele zerreißen sich in stürmischem Wechsel...
Ich aber bin ganz aufgegangen in der Zeit, deren Ordnung ich nicht kenne...
(Augustinus Confessiones, Buch XI)
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