Der Kaiser der Mündlichkeit

Doch lassen wir uns durch den Glanz von König- und Kaisertum nicht täuschen. Mit der Krise der karolingischen Königsfamilie flossen die Quellen über Karl spärlicher. Ein letztes Zeugnis für lebendige mündliche Erinnerung liefert Notker von St. Gallen. 883 hatte der Mönch Kaiser Karl III. "dem Dicken" bei einem Klosterbesuch vom großen Urgroßvater erzählt. Der bestellte ein Buch über die Taten Karls, die Gesta Karoli, die in den achtziger Jahren des 9. Jahrhunderts entstanden. Historiker haben keinen großen Gefallen an dieser Schrift gefunden. Sie handelt wenig über Politik, enthält dafür Anekdoten, scheinbar unbedeutende Begebenheiten, Klostergeschichten, die sich die Mönche über die Jahrzehnte weitererzählt hatten. Ganze drei Gewährsmänner aus dem Konvent nannte Notker, einer davon war bei der Niederschrift schon verstorben. Nicht Geschichte, sondern Geschichten bewahrte das Werk. Erbauliches stand neben Wunderlichem: Ein Besuch des Kaisers in der Klosterschule, Tricks bei der Besetzung von Personalstellen, Wunderliches im persönlichen Umgang mit Bischöfen und Klerikern, kaiserliche Bemühungen um den Kirchengesang, Geschichten über eine einbalsamierte Maus oder über einen tödlichen Spinnenstich, Politik und Tracht, imperialer Familienklatsch.(32)

Der neue Karl der Mündlichkeit unterschied sich deutlich vom Helden Einhards. Ein anderes Überlieferungsverhalten, veränderte Interessen und neue Sehnsüchte nach Karl dem Großen treten hervor. Im Gefüge von Erinnern und Vergessen wurde es an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert, in einer Zeit schwindender Schriftlichkeit, auch stummer um Karl. Um so erstaunlicher ist der fast kometenhafte Aufstieg des Karlsmythos in zahlreichen lateinischen und volkssprachlichen Dichtungen des Hochmittelalters, in den Liedern der fahrenden Sänger, in den Heldenepen, in der erbaulichen Literatur, in der Hagiographie.(33) Wie sollen wir den Zeitsprung von Notkers Gesta Karoli im ausgehenden 9. Jahrhundert und der Oxforder Fassung des Rolandslieds aus der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert füllen?

Nur Indizien wurden bisher für den Lückenschluss gesammelt. In einer früheren Untersuchung versuchte ich das anhaltende Interesse an Karl dem Großen im westfränkischen Reich aus schütteren Quellen zu kartieren, in der Zusammenstellung des Gebetsgedenkens am Todestag des Kaisers und der Verbreitung von Einhards Karlsvita.(34) Diese Vita Karoli Magni war ein besonders beliebter Text des Mittelalters, häufig zitiert und fleißig abgeschrieben. Mit seiner Arbeit aktualisierte jeder Kopist die Erinnerung an herrscherliche Größe aufs Neue. Etwa 80 mittelalterliche Handschriften waren früher bekannt. Eine neue Untersuchung der Überlieferung bietet jetzt endlich eine verlässliche Grundlage. Etwa 120 [293] Handschriften oder Handschriftenfragmente sind gesichert, die Kommunikationswege der Texte konnten verfolgt werden.(35) Damit entsteht das Bild einer vernetzten europäischen Klerikergesellschaft mit beachtlichen historisch-politischen Interessen, einer Schriftkultur, die zur gelehrten Basis für das Aufblühen des Karlsmythos erwuchs. Die Wege vom lateinischen Schreiben zum altfranzösischen oder mittelhochdeutschen Singen, von klerikaler Schriftlichkeit zur Mündlichkeit einer ritterlichen Laiengesellschaft sind indes holprig. Indizien und Modelle überwiegen beim Brückenschlagen von der Geschichtswissenschaft zu den Philologien, Beweise wollen nicht, allenfalls selten gelingen.

Die neuere Mittelalterforschung beschwört heute gerne die Kultur der Mündlichkeit,(36) Oralität vielleicht aus neuer Liebe fürs Unfassbare. Mit den traditionellen Methoden der Geschichtswissenschaft und Handschriftenkunde lässt sich die Überlieferungslücke von 200 Jahren in der Tat nicht füllen. Will man nicht gleich eine großangelegte Geheimdienstaktion Orwellscher Prägung am Werke sehen - und zu dieser Grundlage von Ernsthaftigkeit bekenne ich mich gerne -, dann muss man lange mündliche Erzähltraditionen annehmen, durch die Zeitläufte immer wieder verändert und ergänzt, doch stets um die gleichen Zentren kreisend: Karl, der Kaiser; Karl, der vorbildliche Ritter; Karl, der Heidenkämpfer; Karl, der Missionar. Zwanglos konnte man diesen Herrscher nach Spanien gegen die Mauren, nach Konstantinopel zu den Byzantinern, ins Heilige Land gegen die Araber schicken. Zwanglos konnte man in ihm den Prototyp idealen ritterlichen Hoflebens feiern. Zwanglos entstand in ihm das Idealbild christlicher Herrschaft.

Erzählstoff und Erzählabsicht wechselten mit aktuellen Herausforderungen. Mit Karl machte man sich selbst und seine Zeit berühmt und wichtig, eine Chance, die bis heute andauert, wenn die Geltungssucht von Jahrhundert-Radierern mit dem gestrichenen Karl die Mediengesellschaft fasziniert. Der Kaiser der Mündlichkeit hielt und hält die Sehnsüchte wach; er wurde aus diesen Sehnsüchten immer wieder geboren oder neuerdings gestrichen. Gewiss, die Wissenschaft hat die Methodenprobleme, die sich aus der Geschichtsüberlieferung jenseits der Pergamente ergeben, noch nicht bewältigt. Die besonderen Bedingungen mündlicher Kulturen, die Probleme des Übergangs von Oralität zur Literalität, vom gesungenen zum geschriebenen Lied, treten erst langsam in die wissenschaftlichen Debatten ein. Eine Zeit, die wieder stärker aus Bildern denn aus Worten lebt, Gegenständlichkeiten durch Virtualitäten überwindet, entwickelt dafür vielleicht eine neue Sensibilität.

Entnommen aus: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 5/6/2000, Seiten 284 ff.

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32) Notker der Stammler: Taten Kaiser Karls des Großen, ed. Hans F. Haefele (MGH. Scriptores rerum Germanicarum, NS 12). München 1980; Übersetzung: Reinhold Rau (Bearb.): Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Bd. 3. Darmstadt 1960, S.321-427; Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 2. München 1992, S.51-56.

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33) Gaston Paris: Histoire poétique de Charlemagne. Paris 2. Aufl. 1905; Paul Lehmann: Das literarische Bild Karls des Großen vornehmlich im lateinischen Schrifttum des Mittelalters. In: Paul Lehmann: Erforschung des Mittelalters, Bd. 1. Stuttgart 2. Aufl. 1959, S.154-207; Karl-Heinz Bender: König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de geste des XII. Jahrhunderts (Studia Romanica 13). Heidelberg 1967; Frantisek Graus: Lebendige Vergangenheit. Überlieferungen im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln/Wien 1975, S.182-205; Andreas Bomba: Chansons de geste und französisches Nationalbewusstsein im Mittelalter (Text und Kontext 5). Stuttgart 1987.

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34) Bernd Schneidmüller: Karolingische Tradition und frühes französisches Königtum. Untersuchungen zur Herrschaftslegitimation der westfränkisch-französischen Monarchie im 10. Jahrhundert (Frankfurter Historische Abhandlungen 22). Wiesbaden 1979, S.14-36.

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35) Matthias M. Tischler, Einharts Vita Karoli. Studien zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption, Hahn, Hannover 2001, Schriften der MGH; 48, ISBN 3-7752-5448-X (s. auch die Rezension von Dr. Hubertus Seibert, München).

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36) Vgl. Matthias Grässlin: Niemand sang die Sündenregisterarie nach. Der achte deutsche Mediävistentag überzeugt sich von der Realität Karls des Großen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.103, 5. Mai 1999, S.54. Zur wissenschaftlichen Debatte Hanna Vollrath: Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften. In: Historische Zeitschrift 233, 1981, S.571-594; Michael Richter: The Oral Tradition in the Early Middle Ages (Typologie des sources du moyen âge occidental 71). Turnhout 1994; Johannes Fried: Die Kunst der Aktualisierung in der oralen Gesellschaft. Die Königserhebung Heinrichs I. als Exempel. In: GWU 44, 1993, S.493-503.

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Erstellt am 9.7.2000.

Geändert am 9.7.2000.

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