Ist Karl der Große, sind 300 Jahre im Mittelalter bloß erfunden?

Sensationelles versprach uns seit 1992 der Systemanalytiker und Privatgelehrte Heribert Illig: er habe herausgefunden, dass die Zeit vom Jahre 614 bis zum Jahre 911 nur erfunden sei, dass also Karl der Große nie gelebt habe, dass alle Ereignisse, die über diese Zeit in den Schulen und den Universitäten gelehrt werden, nur der blühenden (oder kriminellen?) Phantasie von "Zeitfälschern" im Mittelalter entsprungen seien
Seine Erkenntnisse hat er in mindestens vier Büchern (Angaben s.u.) niedergelegt; auch im Fernsehen (MDR und rtl) durfte er seine Thesen der staunenden Öffentlichkeit vorstellen. Inzwischen ist auch ein sehr wohlwollendes Interview im Netz nachzulesen.
Der Klappentext des im Econ-Verlag erschienen Illig-Buches von 1996 lautet:

Das frühe Mittelalter gilt als dunkel, weil so wenige Quellen und Funde diese Zeit bezeugen. Lediglich ein Jahrhundert Karolingerherrschaft scheint unvergängliche Spuren hinterlassen zu haben: Einigung von halb Europa, Renaissance der Künste und Wissenschaften, der Rechtsprechung und der Theologie, eine erhabene Fülle weltlicher und kirchlicher Bauten, eine unübertroffene Buchmalerei.
In dem Augenblick aber, in dem kritisch Chronik mit Chronik, erhaltene Architektur gegen Urkunden, archäologische Funde gegen Geschichtsschreibung gehalten werden, in dem Augenblick klaffen unüberbrückbare Widersprüche. Dann fehlt z.B. einem ständig kriegführenden und ständig bauendem Kaisertum die wirtschaftliche Grundlage, dann kann das Herz des Reiches, die Aachener Pfalzkapelle, nicht von Karolingern gebaut worden sein, dann hat es die Grablege der Karolinger in Paris nie gegeben, dann fallen karolingische und ottonische Buchmalerei ineinander, genauso wie karolingische und frühromanische Baukunst.
Daraufhin kann ergründet werden, wie ein Karl der Große, wie fast drei Jahrhunderte in unsere Geschichte geraten sind, obwohl es sie nie gegeben hat. Erkennbar werden die Urheber und die Motive für derartige Fiktionen, das Wechselspiel zwischen kaiserlichem und päpstlichem Machtanspruch, die Bedürfnisse der damals entstehenden Nationen, also der deutschen, französischen, englischen und italienischen. Nicht zuletzt verstehen wird das unermüdliche, maßlose Fälscherwesen der damaligen Zeiten viel besser. So fällt neues Licht auf das dunkle Mittelalter.

Hier spricht ein Wissender, der "neues Licht" auf das "dunkle" Mittelalter wirft, auch wenn er dabei gegen die versammelte Fachzunft und gegen die allgemeine Meinung steht.
Eine erste Reaktion auf diese "Sensation" erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In ihrer Literaturbeilage vom 1.10.1996 schrieb Matthias Grässlin einen Verriss unter dem Titel "Dr. Seltsam und die Zeitbombe. Heribert Illig kuriert die Chronologie" (Seite L 31), am 26.9.1997 folgte in der Zeit (S. 64) ein Artikel von Richard Herzinger, der die Motive untersuchte, die hinter derartigen Thesen stecken. Inzwischen sind in der taz am 30.1.1999 und am 8.6.1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Artikel erschienen, die den um Illig gescharten "Zeitensprünglern" (so von mir nach der von Illig und anderen herausgegebenen Zeitschrift "Zeitensprünge" genannt) gegenüber freundlicher eingestellt sind. Der letztgenannte Artikel ist eine bemerkenswert unkritische Rezension eines neuen Buches von Uwe Topper, der ebenfalls in den "Zeitensprüngen" schreibt. (Übrigens scheint Topper bei Illig inzwischen in Ungnade gefallen zu sein, wenn man den Inhaltsverzeichnis der Zeitensprünge vom Dezember 1998 glauben kann, wo Topper anscheinend des Plagiats bezichtigt wird.)

Viel besser als die Rezension vom 8.6.1999 war Ekkehard Eickhoff am 8.2.2000 im Feuilleton der FAZ auf S. 55 in seiner Besprechung des 1999 erschienenen Buches von Illig. Dort schrieb Eickhoff unter anderem:

"Um die These richtig zu würdigen, muss man sich in die Rolle der Fälscher versetzen. Was musste die Hofkapelle des blutjungen Otto III., was mussten Konstantin VII. und seine Helfer alles zurechtschreiben, wie viele fremde Herrscher und Gelehrte mussten sie dazu bringen, dasselbe zu tun? Zehntausende von Schriftzeugnissen mussten erfunden und aufeinander abgestimmt werden. Das waren nicht nur Herrscherurkunden, von denen wir wenig Originale haben, sondern alle Geschichtswerke, Heiligenviten, Annalen. Es durfte ja keine einzige Chronik übrig bleiben, in der die Ereignisse um 911 direkt auf die von 614 folgten. Ein Beispiel: Das Ringen um die mediterrane Seeherrschaft und die arabische Eroberung Siziliens von 827 bis 902 sind aus byzantinischen, abendländischen und arabischen Quellen zugleich belegt; alles greift ineinander. Also musste auch noch die arabische Historiographie der Epoche, weit reichhaltiger als die griechische und lateinische, erfunden werden. Die großen Geschichtswerke des Tabari (gestorben 923), Masudi (gestorben 956) und des Kopten Eutychius (gestorben 940) waren zu fälschen."

Gegenargumente

Nach einigen Diskussionen in einschlägigen News Groups im Internet (beispielsweise in "de.sci.geschichte") habe ich einmal kurz einige Argumente gegen die Illigschen Behauptungen zusammengefasst. Vielleicht interessieren sie ja den einen oder anderen ...
Auch die Wissenschaft ist nicht ganz sprachlos geblieben gegenüber der Illigschen "Hypothese".
Bei Wikipedia findet sich inzwischen eine Zusammenfassung des ganzen Streits zwischen Illig und der Wissenschaft. Die Zusammenfassung bei wikipedia entstand übrigens - wen wundert es - ebenfalls unter der Begleitmusik eines heftigen Streites zwischen Illig-Befürwortern und Kritikern seiner Thesen ...

Dankbarkeit?

Insgesamt frage ich mich aber, ob man Heribert Illig oder anderen Zeitenhopsern (vgl. etwa die Gruppe um das Online-Magazin GESCHICHTE & CHRONOLOGIE) nicht auch etwas dankbar sein soll. Wenn man sich mit ihm auseinandersetzt, kommt man schnell zu grundlegenden Fragen der (Geschichts-)Wissenschaft. Wie kann ich überhaupt etwas über die Vergangenheit aussagen? Was sind "Quellen"? Welche Aussagekraft haben sie, bzw. sagen Quellen überhaupt etwas aus oder ist es nicht der Wissenschaftler, der die Quellen "sprechen" lässt? (Der Kenner wird wissen, dass es hierzu einen nicht ganz einmütig aufgenommenen Text von Professor Johannes Fried gibt.)
Außerdem bringen Bücher wie die von Illig und Topper die Geschichtswissenschaft vielleicht dazu, sich um mehr populäre Vermittlung ihres gegenwärtigen Diskussionsstands zu bemühen - und das wäre ja nicht das Schlechteste.

Heribert Illig, Karl der Fiktive, genannt Karl der Große. Als Herrscher zu groß, als Realität zu klein; eine Entmystifizierung zur Einweihung des neuen Rhein-Main-Donau-Kanals am 25.9.1992, Gräfelfing: Mantis-Verl., 1992 134 S. : Ill., ISBN 3-928852-03-5

(Vgl. zu diesem frühen Versuch, einen Kanal zu bauen, auch das Bild auf den Seiten des Fachbereichs Geschichte der Universität Tübingen sowie die Anmerkung zu der entsprechenden Stelle in der Rezension von Prof. Rudolf Schieffer.)

Ders., Hat Karl der Große je gelebt? Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit (= Fiktion Dunkles Mittelalter 1). Gräfelfing: Mantis Verlag 1994, 3. Aufl. 1996, 405 S., zahlr. Abb.

Ders., Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte. Düsseldorf: Econ 1996. 431 S., zahlr. Abb., 44,- DM, ISBN 3-430-14953-3.

Ders., Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Geschichte erfunden wurden, Econ- und List-Taschenbuch-Verlag, München, 1999 287 S.; graph. Darst.; 19 cm; Literaturverz. S. 265 - 276, Econ & List: 26561, ISBN 3-612-26561-X

Uwe Topper, "Erfundene Geschichte". Unsere Zeitrechnung ist falsch - Leben wir im Jahr 1702? Herbig Verlag, München 1999. 254 S., 53 Abb.; geb., 39,90 DM

zu Chladek im Netzzur EinleitungDer reale KarlDie WissenschaftEditorial BoockmannRezension SchiefferIlligs ZitierweiseIllig-Vortrag in KölnBrief von Sven SchütteKarolingische FundeSeibers Tischler (Einhard)Nachleben KarlsMillennium - verrücktZurueck zu Chladek


Erstellt am 4.5.1998.

Geändert am 20.2.2010.

Copyright © 1999–2010, Tilmann Chladek

Kontakt

zurück an den Anfang

Platzhalter Platzhalter Platzhalter Platzhalter
Platzhalter Platzhalter Platzhalter Platzhalter