Die goldene Nase

Neben den Kaiser, der in eine lebendige Geschichte konstruiert wurde, rückte an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend der handfeste Tote. Seit Otto dem Großen hatten ottonische Herrscher das Aachener Marienmünster(37) zum Zentralort der Königskrönung [294] gemacht. Damit wurde das 925 erworbene Lotharingien auf Dauer für das ostfränkisch-deutsche Reich gesichert, ebenso die fränkischen Grundlagen monarchischer Herrschaft in der Legitimationskonkurrenz mit den bis 987 regierenden karolingischen Königen des westfränkisch-französischen Reichs. Von Karls Grab griff man schließlich auf die von ihm begründeten imperialen Traditionen aus. Ottos I. Kaiserkrönung 962 in Rom verknüpfte für achteinhalb Jahrhunderte das Kaisertum mit der ostfränkisch-deutschen Monarchie.

Im Jahr 1000 verlieh der jugendliche Kaiser Otto III., von Späteren als tragischer Jüngling im Sternenmantel bewundert, seinen Vorstellungen vom christlichen Europa unter kaiserlichem Vorrang sichtbaren Ausdruck. Von Italien kommend, reiste er über Regensburg zum Märtyrergrab Adalberts nach Polen. Dort erzielte er mit dem Polenherzog Boleslaw Chrobry eine weitgehende Übereinkunft über die Autonomie von Reich und Kirche in Polen; sichtbarer Ausdruck war die Erhebung Gnesens zum Erzbistum. Durch die Christianisierung Polens und Ungarns erweiterte sich das Abendland mächtig nach Osten, und das ostfränkisch-deutsche Reich, bisher am Ende der fränkischen Welt, rückte in eine neue Mittlerstellung ein.(38) Als Pate für die im lateinischen Westen neue Idee von einer Familie der Könige unter ideellem Vorrang des Kaisers könnte Otto III. Karl den Großen ins Feld geführt haben. Das große Vorbild wurde jedenfalls zum historischen Mittler zwischen Kaiser und Polenherzog. Von Gnesen zog der damals 20-jährige Herrscher, vielleicht in Begleitung Boleslaws, über Magdeburg und das Rhein-Main-Gebiet nach Aachen. Schon seit 997, bald nach der Kaiserkrönung in Rom, hatte der ehrwürdige karolingische Platz die besondere Aufmerksamkeit und Förderung Ottos gefunden. Über die endgültigen Ziele wird derzeit heftig debattiert: Sollte Aachen zum neuen Bistum erhoben werden? Wollte man den hier begrabenen Karl gar als Heiligen verehren? Sollte dort ein nordalpiner Memorialort des Kaisertums neben Rom entstehen? Der frühe Tod Ottos III. im Jahr 1002, von den Zeitgenossen mit seinem Aachener Handeln ursächlich in Verbindung gebracht, ließ die Pläne nicht mehr reifen.(39)

Doch Ottos Sehnsucht nach Karl dem Großen trat deutlich hervor. Römisches Kaisertum, imperiale Europapolitik und die zielstrebige Förderung des karolingischen Erinnerungsorts für ottonische Zwecke verschmolzen damals. Otto ließ im Jahr 1000 planmäßig nach dem Grab Karls des Großen suchen und es öffnen, aus Bewunderung für den großen Vorgänger. Vier unterschiedliche Berichte bezeugen das ungeheuerliche Ereignis.(40) Vielleicht zielte es auf die Etablierung eines kaiserlichen Kults? Die zeitnahen Zeugen sind sich in Einzelheiten und im Urteil nicht einig, so dass letzte Sicherheiten über die Aachener Vorgänge und Ottos Wünsche nicht zu gewinnen sind. Den eindringlichsten Bericht liefert die Chronik des piemontesischen Klosters Novalese, angeblich gestützt auf einen Augenzeugenbericht: [295] "Nach vielen Jahren kam Kaiser Otto III. in die Gegend, wo Karls Leichnam geziemend begraben ruhte. An den Ort des Begräbnisses stieg er zusammen mit zwei Bischöfen und dem Grafen Otto von Lomello hinab. Der Kaiser selbst war der vierte. Jener Graf erzählte die Sache folgendermaßen: Wir traten bei Karl ein. Er lag nämlich nicht, wie üblicherweise die Leiber anderer Verstorbener, sondern er saß wie lebendig auf einem Thron, war mit einer goldenen Krone gekrönt, hielt das Szepter in den Händen mit angezogenen Handschuhen, durch die bereits die Fingernägel durchbohrend herausgewachsen waren. Über ihm war ein aus Kalk und Marmor ziemlich gut gebautes Gewölbe. Wir beschädigten es beim Hinkommen, indem wir ein Loch hineinbrachen. Als wir dann zu ihm eintraten, nahmen wir einen sehr starken Geruch wahr. Mit gebeugten Knien richteten wir sofort ein Gebet an ihn. Kaiser Otto bekleidete ihn dann mit weißen Gewändern, beschnitt ihm die Nägel und stellte alles Abgefallene um ihn wieder her. Nichts von seinen Gliedern war bis dahin durch Verwesung vernichtet, nur von seiner Nasenspitze fehlte ein wenig. Sie ließ der Kaiser sogleich aus Gold ergänzen und ging dann weg, nachdem er aus (Karls) Mund einen Zahn gezogen und das Gewölbe wieder hatte herstellen lassen" .(41)

Gewiss - wir würden heute unsere Vorbildbegeisterung anders gestalten! Ottos Bewunderung, seine ammiratio, wirkt anstößig, übrigens bei Menschen der ersten wie der zweiten Jahrtausendwende. Doch die Ziele werden deutlich: Persönliche Orientierung, Steigerung des Aachener Begräbnisortes und Aufgipfelung des römischen Kaisertums mit seiner neuen europäischen Sendung. Karl der Große war nun nicht mehr nur der machtverheißende Vorfahr wie im 9. Jahrhundert, sondern als Amtsvorgänger der Begründer des westlichen Kaisertums. Als der kaiserliche Jüngling, kinderlos und ohne Nachfolgeordnung, kaum zwei Jahre später in Italien verstarb, brachte man seine Leiche auf gefahrvollen Wegen über die Alpen. Im Aachener Marienmünster, in der Nähe des bewunderten Karl, wurde Otto III. beigesetzt.(42) Auch wenn besonnene Historikerinnen und Historiker zu Recht die gravierenden Unterschiede in den Herrschaftsvorstellungen Karls und Ottos herausstreichen - der imperiale Glanz eines ungewöhnlichen Kirchenbaus vereinigte beide Kaiser fortan im Tod.

Mehr als 150 Jahre sollte es dauern, bis ein anderer großer Kaiser die Heiligsprechung des Vorgängers endlich bewirkte, dann in einer Zeit formalisierter Kanonisierungsverfahren. Zwar stieg das Marienmünster im Mittelalter nie in den Rang einer Bischofskirche auf. Doch die Erinnerung an Karl den Großen brachte seit der Jahrtausendwende immer neue Frömmigkeits- und Bewunderungsleistungen hervor. Längst war er zum Idealtyp christlicher Herrschaft geworden. Als wenige Jahre nach Ottos III. Tod Adalbold von Utrecht in seiner Lebensbeschreibung Kaiser Heinrichs II. die politische Rechtmäßigkeit seines Helden unterstrich, wurde ihm die doppelte Herkunft Heinrichs von Karl dem Großen, vom Vater wie von der Mutter her, zum Hauptargument.(43) Auch für Kaiserin Kunigunde aus dem luxemburgischen Grafenhaus wurde damals eine von Karl dem Großen ausgehende Genealogie [296] entwickelt.(44) Der karolingische Urahn verbürgte Würde und Eignung. Die Berufung auf ihn, die Nähe zu seinem Grab, gar karolingische Gene im eigenen Blut - das alles transportierte Rechtmäßigkeiten und Ansprüche. Karls letzter Nachfahre in direkter männlicher Linie war im frühen 11. Jahrhundert ins Grab gesunken. Nun wurden die vielen Verwandtschaften über weibliche Ecken und Kanten wichtig, wahrhaftig oder wenigstens gut geglaubt. Die Bezugnahmen mehrten sich heftig, weil aus ihnen politische Legitimität erwuchs. Mit wachsendem Abstand vom realen Karl stand der Ausbreitung dynastischer, religiöser, politischer Sehnsüchte immer weniger im Weg. Das hochmittelalterliche Europa mit den vielen Erben der fränkischen Vergangenheit bediente sich locker und flexibel seines großen Vaters.

Entnommen aus: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 5/6/2000, Seiten 284 ff.

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37) Die reiche Literatur zur mittelalterlichen Stiftsgeschichte bei Alfred Wendehorst/Stefan Benz: Verzeichnis der Säkularkanonikerstifte der Reichskirche. Neustadt an der Aisch 2. Aufl. 1997, S.21-23.

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38) Johannes Fried: Otto III. und Boleslaw Chrobry. Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars' der "Akt von Gnesen" und das frühe polnische und ungarische Königtum. Eine Bildanalyse und ihre historischen Folgen (Frankfurter Historische Abhandlungen 30). Stuttgart 1989; Knut Görich: Otto III. Romanus Saxonicus et Italicus. Kaiserliche Rompolitik und sächsische Historiographie (Historische Forschungen 18). Sigmaringen 1993; Gerd Althoff: Otto III. Darmstadt 1996.

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39) Ernst-Dieter Hehl: Herrscher, Kirche und Kirchenrecht im spätottonischen Reich. In: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hrsg.): Otto III. - Heinrich II. Eine Wende? (Mittelalter-Forschungen 1). Sigmaringen 1997, S.169-203; Ludwig Falkenstein: Otto III. und Aachen (MGH. Studien und Texte 22). Hannover 1998.

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40) Knut Görich: Otto III. öffnet das Karlsgrab in Aachen. Überlegungen zu Heiligenverehrung, Heiligsprechung und Traditionsbildung. In: Gerd Althoff/Ernst Schubert (Hrsg.): Herrschaftsrepräsentation im ottonischen Sachsen (Vorträge und Forschungen 46). Sigmaringen 1998, S.381-430.

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41) Chronicon Novaliciense, ed. Gian Carlo Alessio. Torino 1982, III 32, S.182; Übersetzung: Görich (Anm. 40), S.383.

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42) Joachim Ehlers: Magdeburg - Rom - Aachen - Bamberg. Grablege des Königs und Herrschaftsverständnis in ottonischer Zeit. In: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hrsg.): Otto III. - Heinrich II. Eine Wende? (Mittelalter-Forschungen 1). Sigmaringen 1997, S.47-76.

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43) Adalbold von Utrecht: Vita Heinrici y.I. imperatoris, ed. H. van Rij. In: Nederlandse Historische Bronnen, Bd. 3. Amsterdam 1983, 5 48; Übersetzung von Markus Schütz: Adalbold von Utrecht: Vita Heinrici II imperatoris - Übersetzung und Kommentar. In: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 135, 1999. - Vgl. Bernd Schneidmüller: Otto III.- Heinrich II. Wende der Königsherrschaft oder Wende der Mediaevistik? In: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hrsg.): Otto III. - Heinrich II. Eine Wende? (Mittelalter-Forschungen 1). Sigmaringen 1997, S.9-46, hier S.11-14.

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44) Karl Schmid Ein verlorenes Stemma Regum Franciae. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung und Funktion karolingischer (Bild-)Genealogie in salisch-staufischer Zeit. In: Frühmittelalterliche Studien 28, 1994, S.196-225.

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Erstellt am 9.7.2000.

Geändert am 11.7.2000.

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