Karl der Große hat doch existiert

Zuallererst möchte ich sagen, dass ich, gerade bei diesem Thema, sehr viel aus den Diskussionen in den newsgroups "de.sci.geschicht"e und "soc.history.medieval" gelernt habe. Ein Teil dessen, was im folgenden kommt, geht direkt auf die dort gemachten Äußerungen zurück. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es vor allem Nele Abels, Gerrit Bigalski, Thorsten Burmester, Peter Buwen, Florian Eichhorn, Prof. Horst Enzensberger, Stefan Frank, Dieter Lehmann, Matthias Müller-Götz, Benedikt Rosenau, Kurt Scheuerer, Florian Schmitt und Maria Winter, bei denen ich wertvolle Hinweise gefunden habe. Die Verantwortung für das Folgende trage ich allerdings ganz allein ...

Kein Hinweis auf Fälschungsaktion

Um mit dem Offensichtlichen anzufangen: für die großangelegte Fälschungsaktion, die Illig unterstellt, gibt es keinen einzigen positiven Beweis (also z.B. eine schriftliche Fälschungsanweisung von einem Oberen an irgend einen Unterling). Alles, was Illig über die Fälschung äußert, ist nicht belegte Spekulation, gleich, ob Illig nun Otto III. (1996) oder Konstantinos Porphyrogenetos, einen byzantinischen Kaiser, (1999) als Urheber der "Zeiterfindung" ansieht.
Im Vergleich dazu quillt die von Illig behauptete "Fundleere" der karolingischen Zeit geradezu über an Funden ...

Raum der Fälschungsaktion

Die Zeitfälschung hätte nicht nur in (West-)Europa, also von Irland bis an die Grenze des byzantinischen Raums, sondern auch im byzantinischen Reich (Ostrom) sowie im gesamten arabischen Raum durchgeführt werden müssen, ja wahrscheinlich sogar über Indien bis nach China. Denn alle diese regionalen "Geschichten" sind synchronisiert durch "gemeinsame Ereignisse", also etwa den Austausch von Gesandschaften, Heiraten zwischen Angehörigen verschiedener Herrscherhäuser und natürlich Schlachten, also etwa Schlachten zwischen Byzantinern und Arabern.
Welches Motiv aber hätten Byzantiner oder auch Franken, Araber, Inder und Chinesen gehabt, bei irgendwelchen "spinnerten" Ideen eines sächsisch-deutschen oder eines byzantinischen Kaisers mitzumachen? Eine derartige Fälschung bringt ja nicht nur sachliche Probleme, sondern erfordert ja auch einen hohen Arbeits- und Koordinationsaufwand. Und das hätten Byzantiner, Araber, Inder und Chinesen nur für die schönen Augen unseres Jünglings Otto III. in Rom oder für den aus einer zweifelhaften Familie stammenden Konstantin gemacht?

Menschen zwischen 614/15 und 911/12

Wenn die Jahre 614 bis 911 aus der Geschichte gestrichen gehören, weil sie nicht stattgefunden haben, sondern nur erfunden worden sind, dann folgt zwingend daraus, dass ein großer Teil der Leute, die im Jahr 614 gelebt haben, im (falsch gezählten) Jahr 912 (also eigentlich 615) noch gelebt haben müssen. Mir (und soweit ich weiß, auch Illig) ist kein einziger Mensch bekannt, der sowohl 614 wie auch 912 (615) am Leben war. Alle Menschen, die wir noch aus dem Jahr 614 kennen, gelten - in den Fällen, in den man sich noch ihrer erinnert - im Jahr 912 als längst gestorben (es gibt eine Reihe Menschen aus den Jahren bis 614, die für Kirchenleute im Jahr 912 noch wichtig waren, z.B. Isidor von Sevilla, Verfasser u.a. einer großen Enzyklopädie, der nach herkömmlicher Zeitrechnung im Jahr 636 gestorben ist).

Die Kunst wissenschaftlichen Zitierens

"Pseudowissenschaftlich" nenne ich Illig, weil er sich mit einem "wissenschaftlichen Apparat" (also vielen Fußnoten) in seinem Buch schmückt, aber sehr oft falsch oder verfälschend zitiert, wenn es so besser in sein Konzept paßt (Dieter Lehmann hat mir freundlicherweise seinen Text mit vielen Beispielen zur Verfügung gestellt). Ein Beispiel dafür ist auch bei Schieffers Rezension zu finden. Schauen wir uns es einmal genauer an.

Heribert Illig hat 1997 geschrieben:

"Beda hat also nicht die Jahreszählung »n. Chr.« eingeführt, worauf wir bereits hier unterstellen, daß sie erst zur Jahrtausendwende in Anwendung kam. Daraufhin wurden Urkunden des 10. Jahrhunderts zum Teil umdatiert, was die überarbeiteten Datumszeilen vieler Urkunden bezeugen [Bresslau 1958, II 393-478 »Die Datierung der Urkunden«]." (aus: Heribert Illig, Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte, Econ, Düsseldorf, 3. Auflage 1997, ISBN 3-430-14953-3, S. 89)

Illig unterstellt hier mal wieder etwas, und behauptet dann, dass "Urkunden des 10. Jahrhunderts zum Teil umdatiert [wurden], was die überarbeiteten Datumszeilen vieler Urkunden bezeugen". Er gibt immerhin implizit zu, dass er nicht selbst bei diesen "vielen" Urkunden die angeblich überarbeiteten Datumszeilen gesehen hat, sondern gibt als Quelle für seine Behauptung den zweiten Band des bekannten Werks Harry Bresslaus an. In Illigs Literaturverzeichnis wird als Ausgabe des Bresslauschen Werkes der fotomechanische Nachdruck von 1958 angeführt.

Der zweite Band von dieser Ausgabe war mir nicht zugänglich, doch habe ich mir die Mühe gemacht, in einer älteren Ausgabe Bresslaus nachzulesen, ob Illigs Behauptung stimmt. Ich habe folgendes Werk benutzt: Harry Bresslau (+), Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Band 2, 2. Abteilung, 2. Auflage, Berlin, Leipzig 1931.

Im 16. Kapitel, "Die Datierung der Urkunden", S. 393-478, war kein einziges Mal von "überarbeiteten Datumszeilen" die Rede, geschweige denn von "vielen umdatierten Urkunden mit überarbeiteten Datumszeilen". Sie können somit auch nichts bezeugen, und Illigs "Quellenangabe" ist genau so falsch wie die Schlussfolgerungen, die er daraus ableitet.

Daneben ist anzumerken, dass Illig Argumente aus der sogenannten Sekundärliteratur (also z.B. ein modernes Buch von Robert Newton mit Aussagen über den englischen Kirchenmann Beda aus dem 8. Jahrhundert) auch dann nicht durch Nachlesen im Original nachprüft, wenn er mit ihnen zentrale Punkte seiner Argumentation belegen will. Sonst hätte er im angeführten Beispiel nämlich gemerkt, dass sein Gewährsmann über Beda Dinge geschrieben hat, die durch das Original nicht gedeckt sind (hier ist die in "de.sci.geschichte" berühmt gewordene "Null" gemeint, die Beda laut Illig angeblich bereits verwendet hat, die aber in Wirklichkeit das lateinische Wort "nulla" im Sinn von "keine" war).

Der Urheber der Fälschung und seine Diener

Kaiser Otto III., der von Illig in seinen Bücher von 1994 und 1996 als "Hauptverdächtiger" der Zeitfälschung genannt wurde (in seinem 1999 erschienenen neuen Buch scheint Illig Otto III. durch den byzantinischen Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogenetos ersetzt zu haben), hätte zu seiner Fälschungsaktion der Hilfe der gesamten Kirche bedurft. Er war aber vor seinem frühen Tod eher zerstritten mit der Kirche, warum hätte sie dann die für seine Aktion große nötige Arbeit aufbringen sollen?

Reaktion der Wissenschaft

Soweit einige kurze Einwände gegen die Illigsche Phantomzeit. Die Wissenschaft, also Archäologie und Geschichtswissenschaft, müssten sich eigentlich herausgefordert fühlen durch Bücher wie das Illigsche. Inzwischen hat es einige Reaktionen von Wissenschaftlern gegeben, wenn auch nicht in dem Umfang, wie man hätte hoffen können.

Doch im weltweiten Netz stehen inzwischen einige Auseinandersetzungen mit den Spekulationen Heribert Illigs:

zu Chladek im Netzzur EinleitungDer reale KarlDie WissenschaftEditorial BoockmannRezension SchiefferIlligs ZitierweiseIllig-Vortrag in KölnBrief von Sven SchütteKarolingische Fundezu Seibers Tischler (Einhard)Nachleben KarlsMillennium - verrücktZurueck zu Chladek

Erstellt am 4.5.1998.

Geändert am 20.2.2010.

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