Reaktion der Geschichtswissenschaft

Leider nehmen eine Reihe von Professoren derartige populär"wissenschaftliche" Werke (dies gilt auch für Gebiete außerhalb der Geschichte) nicht oder kaum zur Kenntnis, weil sie sie als "unwissenschaftlich" betrachten. Gehört aber nicht auch die Auseinandersetzung mit derartigen Äußerungen zu den wohlverstandenen Aufgaben eines öffentlich angestellten Professors?

1995 bereits ging Prof. Johannes Fried jedoch auf Illigs Thesen ein. In seiner Dankesrede für den Preis des Historischen Kollegs, München 1995, stellte er in im Zusammenhang mit Illigs Spekulationen die Frage: "Wo endet konstruktive Vorstellungskraft, wo beginnt destruktive Illusion?"
Abschließend sagte er zur Frage der Existenz Karls des Großen: "Die Informationen über den ältesten Sohn Pippins des Kurzen und seiner Gemahlin Berta begegnen gleichzeitig und unabhängig voneinander überall in der Mittelmeerwelt und im Abendland, in England, Konstantinopel, bei den Arabern im Vorderen Orient und in Spanien, in Rom und im Frankenreich selbst in solcher Dichte, dass seine Existenz zu der in den Geschichtsbüchern verzeichneten Zeit nicht zu bezweifeln ist. Karl der Große hat gelebt. Die 'Karlslüge' ist eine in die Irre führende, unzulässige Illusion."

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

Nicht gescheut hat die Auseinandersetzung mit Illigs Thesen die Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, die Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands. Die Gründe für diese Auseinandersetzung gab Prof. Hartmut Boockmann im Editorial der Folge 10/1997 der GWU an. Er äußerte die Vermutung, dass hinter derartigen Arbeiten "Monomanie und die Abwesenheit von Selbstkritik", aber "auch eine gehörige Portion von Wissenschaftsfeindschaft" stecken. Daneben beklagte auch er, dass die heutige Wissenschaft allzu oft nur selbstbezogen agiert: "Vielleicht hat man es hier mit der Kehrseite des modernen Wissenschaftsbetriebs zu tun, der nur noch auf fachinterne Dialoge zielt und auf diese Weise der Scharlatanerie das Feld überlässt." Für eine Rezension des Illigschen Werkes konnte Boockmann Prof. Rudolf Schieffer gewinnen. Schieffer ist der gegenwärtige Herausgeber der "Monumenta Germaniae Historica (MGH)", also der im letzten Jahrhundert begonnenen, quellenkritischen Ausgabe der Quellen zur mittelalterlichen deutschen Geschichte. Doch nach dieser Vorrede folgt hier der Text der Rezension der Illigschen Bücher durch Prof. Schieffer.

Dankenswerterweise hat mir der Verlag der GWU, der Erhard Friedrich Verlag in Seelze, erlaubt, hier das Editorial (S. 579) und die Rezension (Seiten 611-617) aus der Folge 10/1997 zu veröffentlichen. Das Copyright © 1997-1999 bleibt beim Erhard Friedrich Verlag GmbH & Co KG, Seelze.

Zeitschrift "Ethik und Sozialwissenschaft"

Eine zweite Reaktion fand in der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaft statt. Ich habe sie mit gemischten Gefühlen gelesen. Prof. Theo Kölzer (Bonn) lehnte es darin überhaupt ab, sich mit Illig auseinanderzusetzen, weil seine Thesen dafür zu abstrus seien. Manch anderer verliert sich in Einzelheiten, die es Illig in seiner Erwiderung leicht machten, einige davon kritisch aufzuspießen und dadurch abzulenken davon, dass sein Gesamtbild nicht stimmt.

Prof. Gerd Althoff (Münster) ließ sich auf dieses Spielchen nicht ein und stellte statt dessen die Frage, "was eigentlich alles passiert sein muss, wenn Herr Illig mit seiner Behauptung recht haben soll ". Er kam zu dem Schluss, dass die Fälscher eine "in sich stimmige Hochkultur mit allen ihren Facetten" hätten erfinden müssen, dazu eine königliche Herrschaftspraxis mittels der Kapitularien, wie es sie in der ottonischen Zeit überhaupt nicht mehr gegeben hat. Darauf antwortete Illig mit einem langen Exkurs zur byzantinischen Hofgeschichtsschreibung, der nur leider nichts zu Althoffs Argumenten sagt. Illigs Behauptung, er habe nachgewiesen, dass in der ottonischen Zeit "Scharen von Schreiben und Malern" bereitgestanden hätten, die die "karolingischen Meisterwerke" hätten vollbringen können, sagt ebenfalls nichts zu Althoffs Hinweis darauf, dass in der karolingischen Zeit philosophisch-theologische Werke entstanden sind, deren Niveau in der ottonischen Zeit nicht wieder erreicht worden ist.

Auch ist bis heute von Illig und seinen Anhängern nicht zufriedenstellend erklärt worden, warum sich denn die Fälscher denn über Länder, Kulturen und Religionen hinweg zu dieser gigantischen Fälschungsaktion hätten verabreden sollen.

Kurz, Illig kann bis heute nicht plausibel machen, wer die schriftlich vorliegende Hochkultur der Karolingerzeit (allein die Briefe aus dieser Zeit umfassen in der MGH sechs Bände!) "gefälscht" haben soll und welchem Zweck diese gigantische Fälschungsaktion gedient haben könnte.

Ein weiterer Autor in der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaft war Prof. Dr. Michael Borgolte vom Institut für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter der Humboldt-Universität. Er hatte im Sommersemester 1998 ein Proseminar veranstaltet, in dem die Thesen Illigs diskutiert wurden (und das nebenbei eine Einführung in die Geschichte des Frankenreiches bot). Einen Text Borgoltes zu Karl dem Großen vom März 1999 kann man sich beim Institut für vergleichende Geschichte Europas im Mittelalter über "Publikationen" herunterladen: "Die Auferstehung Karls des Großen im translateinischen Europa. Vor welche Probleme der Prozeß der europäischen Integration die Mittelalterforschung stellt".

Astronomie

Zwar scheint mir die Argumentation Illigs, die "fehlenden Tage", die bei der Kalenderreform 1582 eingefügt wurden, deuteten auf dreihundert "fehlende" Jahre, nicht überzeugend zu sein, doch maße ich mir keine astronomische Kompetenz an. In der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaft (s.o.) wurde auch zu dieser Frage ein Schlagabtausch geführt. Die Versuche in einer anderen Zeitschrift, nämlich der populärwissenschaftlichen Archäologie in Deutschland, Illig auf dem Gebiet der Astronomie zu widerlegen, scheinen1999/2000 auf den ersten Anlauf nicht so recht geglückt zu sein, doch vor einiger Zeit hat Franz Krojer (München) im Netz Überlegungen zu diesem Thema veröffentlicht, die mir plausibel erscheinen, zumindest plausibler als das, was Illig an verschiedenen Stelln dazu schreibt. Inzwischen kann man sie zusammengefasst und überarbeitet in einem Buch nachlesen: "Die Präzision der Präzession. Illigs mittelalterliche Phantomzeit aus astronomischer Sicht."

Geschichtlicher Überblick

Wer übrigens an einem schnellen geschichtlichen Überblick über das karolingische Frankenreich interessiert ist, könnte beispielsweise auf den Seiten von Christian Ilaender nachschauen (und nein, das dort präsentierte Bild Karls ist nicht zeitgenössisch).

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Titel GWU

Eine ausführlich kommentierte Liste von Klickverweisen zu den Karolingern findet sich seit dem Jahr 2001 beim Fachbereich Geschichte der Universität Tübingen. Ein Besuch lohnt sich!

Die Zitate von Fried stammen aus:
Kurzfassung der Rede unter dem Titel "Die Garde stirbt und ergibt sich nicht" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3.4.1996.
Die Langfassung war: Johannes Fried, Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte, - In: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 291 ff.

Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur (EuS), 8 (1997), Heft 4, S. 481-602.


Erstellt am 4.5.1998.

Geändert am 6.5.2005.

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