Die Krönung von Illigs Buch hätte eigentlich eine Aufklärung darüber zu sein, von wem, wann und zu welchem Zweck die vielen Quellenzeugnisse erdacht worden sein sollen, mit denen sich die Erforschung des 7.-9. Jahrhunderts auseinanderzusetzen pflegt. Darüber freilich wird uns erst ein kommendes Werk des Autors belehren, in dem es "vor allem darum gehen" soll, "warum unsere Geschichtsbücher rund drei Jahrhunderte zuviel an Geschichte enthalten könnten - aus Berechnung, Dummheit, Schlamperei, Täuschung, Vorsatz? Wer hat schuld daran, daß unsere Geschichte zu lang geworden ist?" (20) Vorerst wird der Verdacht, zumindest was die in diesem Buch zentrale Gestalt Karls des Großen angeht, auf Otto III. (+1002) gelenkt, der "mit seinem Vertrauten Gerbert, den er zu Papst Silvester II. erhöhte, mit Reichskanzler Willigis von Mainz, mit Erzkanzler Heribert von Köln und seinem einstigen Erzieher Bernward von Hildesheim die Karlsfiktion kreiert und deren imaginäres Kaisertum auf seinen Großvater Otto I. rückübertragen haben" soll (336). Aber auch Heinrich IV. (+1106) in seinem Streit mit Papst Gregor VII., Friedrich Barbarossa (+1190) und sein Enkel Friedrich II. (+1250) hätten kräftig dazu beigetragen, die Geschichte des vermeintlich ersten Kaisers im Mittelalter auszuschmücken und zu überhöhen (336 ff.). Die Theorie hat den Nachteil, daß die Jahreszählung seit Christi Geburt mit Einschluß der inkriminierten 297 Jahre sogleich vom Herbst 911 an durch zahlreiche Urkunden wie auch in jahrweise schildernden Geschichtswerken regelmäßig belegt ist und kein Raum bleibt für Illigs Mutmaßung, wonach erst Otto II. und Otto III. "sich im westlichen Kaiserreich für die Datierung nach Christi Geburt und für die Einfügung dreier künstlicher Jahrhunderte in die Zeitrechnung eingesetzt haben" (286). Daß "Urkunden des 10. Jahrhunderts zum Teil umdatiert (wurden), was die überarbeiteten Datumszeilen vieler Urkunden bezeugen" (89), hat in dem dafür angeführten Werk von Harry Bresslau keinerlei Stütze. Vielmehr zeigen die Schriftzeugnisse des 10. Jahrhunderts einhellig das Bewußtsein ihrer Urheber, im 10. Jahrhundert nach Christus zu leben, und wer die Phase von 614 bis 911 für nachträglich erfunden hält, kann als Tatzeit nur das Rumpfjahr 911 annehmen oder muß bei einem späteren Ansatz der Fälschung gleich auch alles bis dahin Entstandene für fiktiv einschätzen, worauf es bei derart weitgreifenden Verdikten am Ende kaum noch ankommen mag.
Spätestens hier ist gebührend zu betonen, daß Illig sich wohl kaum hinreichend klar gemacht hat, über was für Mengen von Quellen er mit großer Geste den Stab bricht. Es geht nicht bloß um die relativ wenigen und durchweg recht bekannten Zeugnisse, die er in seinem Buch aufs Korn nimmt, denn zumal aus dem 9. Jahrhundert sind im Bereich des lateinischen Europa Tausende von Handschriften und Tausende von Urkunden überliefert, deutlich mehr als aus dem nachfolgenden 10. Jahrhundert. Selbst wenn man, wie es Illig beliebt, alle Erkenntnisse der Paläographie und der Diplomatik als nicht nachvollziehbare Subjektivismen weniger Spezialisten beiseite schiebt, bleiben die inhaltlich vielfältig miteinander verflochtenen Texte übrig, die zugleich mannigfache lokale und regionale Gegebenheiten, Interessen und Gegensätze widerspiegeln. Ihre nachträgliche Erfindung hätte sich, von zentralen Vorgaben ausgehend, an Hunderten von Orten abspielen müssen, komplizierte Abstimmung über weite Distanzen erfordert und doch trotz ungezählter Mitwisser kein vernehmliches Echo hinterlassen. Wenn dafür laut Illig "der mittelalterliche Dauerkonflikt zwischen Kirche und Kaiser, zwischen Welf und Waibling, zwischen zentralistisch-römischer Klerikalherrschaft und zentrifugalen, romfeindlichen Kräften" (342) sowie das Streben von "Hunderten von Abteien und Diözesen . . . wie zahlreichen Kommunen" nach "ganz irdischen Vorteilen" (343) den Impuls abgegeben haben sollen, so bleibt doch unerfindlich, wozu sich jemand z.B. das Reichenauer Verbrüderungsbuch von 824, die Korrespondenz des Abtes Lupus von Ferrieres (+ nach 862), die Gedichte Gottschalks des Sachsen (+867/70) oder die Raffelstetter Zollordnung von 903 später hätte einfallen lassen.

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Erstellt am 4.5.1998.

Geändert am 25.10.1999.

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