Illig freilich findet, "daß diese Kalenderkritik angesichts der widersprüchlichen Quellensituation keineswegs die These einer mittelalterlichen Phantomzeit im Alleingang erzwingt, sondern sie flankiert und den Umfang der notwendigen Kürzung eingrenzt. Die eigentlichen Argumente ergeben sich im Vergleich zwischen den Quellen selbst, vor allem aber im Vergleich zwischen Quellen und architektonischer wie archäologischer Evidenz" (98 f.). Die Quellenkritik, die dementsprechend breiten Raum in dem Buch einnimmt, folgt dem stets gleichen Muster, zunächst im Namen des gesunden Menschenverstandes oder der vermeintlichen Sachlogik hohe (in Wahrheit: anachronistische) Ansprüche an die Quellen zu stellen, um dann zu konstatieren, daß sie dem nicht genügen, vielmehr lückenhaft, widersprüchlich oder unglaubwürdig sind, mithin reif für die Diagnose, spätere Hirngespinste zu sein, getreu dem Motto: "Derartige Widersprüche können nicht abgestellt, sondern nur durch meine These gegenstandslos werden" (20).
So werden gegen die historische Existenz Karls des Großen allen Ernstes die vier folgenden Einwände erhoben: Erstens blieben Zeit und Ort seiner Geburt in den Quellen völlig ungewiß, und seine mütterlichen Vorfahren wurzelten "im Nebulösen" (37 ff.) - ein Argument, mit dem sich weiteste Teile der vormodernen Geschichte, auch in ihren führenden Repräsentanten, aus den Angeln heben ließen. Sodann habe sein Aufstieg zur Alleinherrschaft 771 auf Kosten der Söhne des früh verstorbenen Bruders gegen "fränkisches Recht" verstoßen, ohne daß die Quellen dies monierten (40 f.) - als ob die Weltgeschichte ein Amtsgericht wäre (auch die Pippinische Schenkung des Kirchenstaates soll unecht sein, weil sie den Rechten des byzantinischen Kaisers zuwidergelaufen wäre, 143). Drittens ließen die Nachrichten über Karls Kaiserkrönung an Klarheit arg zu wünschen übrig, und nach 800 sei die neue Würde ihm keineswegs überall und konsequent zugeschrieben worden (41 ff.) - was man üblicherweise mit der Schwierigkeit erklärt, das herkömmliche fränkische Königtum gedanklich mit dem universalen Kaisertum auf einen Nenner zu bringen. Ziemlich grotesk ist schließlich, wenn mit Hinblick auf Karls Tod beanstandet wird: "Wer erwartet, daß nun das größte Begräbnis Europas begangen wird, irrt gründlich" (44). So ist es: Den Quellen abzuverlangen, was den Maßstäben ganz anderer Zeiten entspricht, kann nur in die Irre führen.

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Entnommen aus: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 10/1997, Seiten 611-617

Erstellt am 4.5.1998.

Geändert am 2.6.2000.

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