DIE ZEIT, 26.9.1997, Seite 64

Das Millennium wird verrückt

Wir schreiben das Jahr 1699 – Überlegungen zum neuen Bedürfnis nach Umschreibung der Geschichte/von Richard Herzinger

Die fieberhaft erwartete Millenniumswende fällt aus. Gerade noch rechtzeitig hat sich herausgestellt: wir leben erst im Jahr 1699 christlicher Zeitrechnung.

Rund 300 Jahre unserer bisherigen Geschichte, so meint der geschichtswissenschaftliche Autodidakt Heribert Illig herausgefunden zu haben, seien von dem deutschen Kaiser Otto III. im 7. Jahrhundert nach Christus frei erfunden worden. Otto habe sich mit dieser kühnen Fälschung einen spektakulären Herrschaftsmythos verschaffen und vom Glanz eines überragenden Vorgängers profitieren wollen: wie das gesamte frühe Mittelalter, so habe auch der legendäre Karl der Große in Wirklichkeit nie existiert. Er sei eine fiktive Gestalt, ersonnen und in die Welt gesetzt in verschwörerischer Fälschergemeinschaft von weltlicher und kirchlicher Macht. Illigs These klingt zunächst nur wie die verrückte Idee eines Exzentrikers. Bei näherem Hinsehen wirft sie jedoch interessante Fragen über das Verhältnis zur Geschichte in unserer Gesellschaft auf. Dass Illigs Theorie, die zunächst nur in esoterischen Zirkeln bekannt war, in einer breiten Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit hervorrief, ist ein Symptom für das wachsende Bedürfnis nach Umschreibung und Umdeutung der Historie.

Dieses Bedürfnis ist freilich nicht neu. Immer schon wurde der Deutungsmacht von Geschichte für die Auseinandersetzungen der Gegenwert großes Gewicht zugemessen. Das frühere Pathos der Geschichtsneuschreibung speiste sich jedoch zumeist aus dem Impetus, verschwiegene Ereignisse als Tageslicht zu befördern: die vergessenen Taten und Helden der Arbeiterklasse etwa, die unterdrückte Wahrheit über die Leistungen bedeutender Frauen oder kolonisierter Völker. Auch dieses Pathos war verschwörungstheoretisch: die Herrschenden, so hieß es, hätten die historischen Fakten gefälscht oder verschwiegen, weil sie ihrer Herrschaftsideologie widersprachen. Der "Tigersprung in die Vergangenheit" (Walter Benjamin) sollte sie zurückholen: Geschichte sollte verlebendigt und als Waffe im Befreiungskampf der Benachteiligten eingesetzt werde an. Nach dieser Version gab es in Wirklichkeit mehr Geschichte als die offiziell bekannte. Unter der offiziellen Geschichte schlummerte noch eine ganze Gegengeschichte. Es waren viel zu wenige Ereignisse und Fakten bekannt. Die neuen Geschichtsumschreiber meinen dagegen, dass es weniger Geschichte, weniger Ereignisse und Fakten gibt, als behauptet wird. Auch diese Variante richtet sich gegen eine Fälschung der Herrschenden. Aber der Vorwurf lautet diesmal, sie hätten nicht existente Ereignisse erfunden, um ihre Macht abzusichern.

Die Heribert-Illig-Variante der Geschichtsrevision packt die Geschichtsschreibung bei ihrem Anspruch, eine positive Wissenschaft zu sein. Illigs positivistisches Pathos besagt: alles, was je stattgefunden haben soll, muss sich auch unzweifelhaft belegen und rekonstruieren lassen. Seine superpositivistische Schraubendrehung liegt im Umkehrschluss: wenn Ereignisse sich nicht an Hand authentischen Beweismaterials nachweisen lassen, können sie auch nicht stattgefunden haben. Schon vor einem Jahrzehnt hat er in einer gemeinsam mit Gunnar Heinsohn verfassten Untersuchung die ägyptische Pharaonenzeit neu datiert und um einige tausend Jahre gekürzt. Hinter Illig steht eine ganze Gruppe von geschichtswissenschaftlichen Außenseitern, die sich um die Zeitschrift Zeitensprünge sammelt und die sich obsessiv mit derartigen Korrekturen tatsächlicher oder vermeintlicher Fehldatierungen historischer Epochen beschäftigt.

Die Thesen Illigs sind keineswegs das Produkt eines Dilettanten oder Phantasten. Er macht sich tatsächliche Widersprüche und Unklarheiten in der relativ schlecht dokumentierten Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters zunutze. Seine Schlussfolgerung, die Jahr 614 bis 911 hätte nie stattgefunden, stützt sich auf präzise Quellenkenntnisse,[*] und seine Argumentation besitzt durchaus immanente Plausibilität. Obwohl die Historikerzunft Illigs Theorie für abwegig hält, fällt es ihr daher schwer, seine Argumente im Einzelnen zu widerlegen.

Illig zeigt nämlich indirekt auf, dass die Geschichtsschreibung in letzter Instanz Erzählung bleibt und dass ihre Deutung der Vergangenheit weitgehend auf gedanklichen Konstruktionen und nicht auf eindeutig belegbaren Fakten beruht. Er tut dies aber, indem er daraus gerade keine relativistischen Schlussfolgerungen zieht, sondern seinerseits eine Konstruktion mit absolutem Gültigkeitanspruch präsentiert. Wo die seriöse Mittelalterforschung mangels eindeutiger historischer Belege in Erklärungsnot gerät, offeriert er eine ebenso einfache wie radikale Antwort: wenn in Wirklichkeit gar nichts stattgefunden hat, ist mit einem Schlag das Rätsel fehlender oder widersprüchlicher Dokumente über die vergangenen Ereignisse gelöst.

Damit aber öffnet Illig dem Geschichtsrelativismus eine ungeahnte neue Hintertür. Denn er führt vor, wie auch scheinbar völlig unbestreitbare historische Tatsachen bis hin zur Existenz ganzer Epochen mit den Methoden der Geschichtswissenschaft selbst in Zweifel gezogen werden können. Im konkreten Falle Illigs und seiner Freunde hat dies kaum etwas Bedrohliches, denn sie verfolgen mit ihrem obsessiven Steckenpferd keine erkennbaren politisch-ideologischen Absichten. Allenfalls könnte man in der ersatzlosen Streichung des frühen Mittelalters den Versuch einer Kränkung des christlich-abendländischen Selbstbewusstseins und eine Spitze gegen den Eurozentrismus erkennen.

Erschreckend ist aber, dass die Illig-Methode strukturelle Ähnlichkeiten mit jener der rechtsradikalen Auschwitz-Leugner erkennen lässt. Auch sie arbeiten nämlich mit einem radikalen Positivismus: sie messen die Gaskammern aus, analysieren die chemische Beschaffenheit der Wände und rechnen an Hand der Messergebnisse vor, dass Vergasungen gar nicht stattgefunden haben könnten. Solch vermeintliches Faktenmaterial dient ihnen dazu, die Realität der Judenvernichtung in Frage zu stellen.

Zum Glück scheint es nicht so, als habe der rechtsextreme Revisionismus eine Chance, sich außerhalb sektiererischer Zirkel durchzusetzen. Zu intakt sind dafür offenbar nach wie vor die ethischen Abwehrmechanismen der demokratischen Gesellschaft: so hat sich Ernst Nolte, als er - unter der Prämisse eines strengen Positivismus - die "ernsthafte Prüfung" der Pseudoerkenntnisse von Geschichtsrevisionisten wie Fred Leuchter forderte, damit wohl endgültig um seinen einstigen guten Ruf gebracht.

Doch grundsätzlich fallen geschichtsrevisionistische Suggestionen zunehmend auf fruchtbaren Boden. Im Zuge der postmodernen Infragestellung der Wirklichkeit ist nämlich auch die Realität von Geschichte grundsätzlich in Zweifel gezogen worden.

Für Jean Baudrillard stand schon in den achtziger Jahren fest: Geschichte gibt es nicht mehr. Sie sei ein temporäres Phänomen gewesen: früher, als es noch tatsächliche Ereignisse und nicht nur Medien-Events gab, habe es auch noch Geschichte gegeben. Heute, in der Welt der simulativen Endlosschleife, müsse der Versuch, Geschichte zu rekonstruieren, aussichtslos bleiben. Denn durch die totale Medialisierung geschichtlicher Ereignisse seien die Fakten unwiederbringlich in den Bildern verschwunden. Nichts lässt sich mehr beweisen, nichts Authentisches mehr zurückholen. So werden alle Faktenbehauptungen schließlich gleich gültig, alle Interpretationen möglich und damit zugleich gegenstandslos. Im Zusammenhang mit der Kontroverse um Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus erklärte Baudrillard 1988, für eine Rekonstruktion der tatsächlichen Verfehlungen des Philosophen sei es längst "zu spät", und er prophezeite, eines Tages werde man sogar in Zweifel ziehen, dass Heidegger überhaupt je existiert habe.

Der medientheoretische Nihilismus à la Baudrillard korrespondiert in merkwürdiger Weise mit dem Superpositivismus in der Art Heribert Illigs. Beide Positionen drücken einen Überdruss an der Ambivalenz und Relativität historischer Erkenntnis aus. Aus der Einsicht, dass auch scheinbar noch so gesicherte faktische Evidenzen keine endgültigen und eindeutigen Aussagen über Geschichte garantieren, zieht die erste Position den Schluss, dass damit jegliche Aussage über das historische Geschehen ihre Gültigkeit verloren habe und sich alles Tatsächliche in Interpretation, Manipulation und Fantasie auflöse. Die zweite Position dagegen behauptet, jegliche Unklarheit über die Vergangenheit sei nur auf die Fehlinterpretation und Manipulation von Tatsachen zurückzuführen und durch eine präzise Bewertung der Fakten zu beseitigen. Beide Extrempositionen aber treffen sich im Resultat ihrer Bemühungen, Ambivalenzen zu beseitigen: in der Auslöschung von Teilen der Geschichte bzw. von Geschichte im ganzen.

Nietzsche hat einst behauptet, eine Kultur müsse von Zeit zu Zeit die Last der Historie von ihren Schultern werfen und ihr Wissen darüber wieder vergessen, um sich zu verjüngen. Unsere szientistische Kultur scheint in dieser Hinsicht viel nachhaltiger vorgehen zu wollen: sie entledigt sich der Geschichte, indem sie ihr immer umfassenderes historisches Wissen durch den Nachweis der Nichtigkeit alles Wissens überbietet. Positivistische Faktengläubigkeit und relativistischer Agnostizismus stellen in diesem Prozess keine Gegensätze mehr dar, sondern spielen sich gegenseitig in die Hände.

Dass die Geschichte dieses oder jenes Zeitraums "neu geschrieben" werden müsste, ist seit der sensationellen Präsentation der gefälschten Hitler-Tagebücher zu einem beliebten Werbeslogan für vermeintlich bahnbrechende historiografische Entdeckungen geworden. Woher aber rührt deren großer öffentlicher Sensationswert? Weder in Bezug auf die Gegenwart noch auf die Zukunft scheinen heute wirklich umwälzende Ideen noch denkbar. Utopien sind ebenso diskreditiert wie große theoretische Erklärungsmodelle, und es herrscht das Gefühl vor, im Denken wie in der gesellschaftlichen Praxis könne es nur noch Variationen und Interpretationen von schon Gedachtem und Ausprobiertem geben.

Mehr denn je fühlt sich der Zeitgeist eingezwängt in das "stählerne Gehäuse" einer programmierten Moderne, die dabei aber gleichzeitig eine zunehmende Beliebigkeit der Ideen und Meinungen produziert. Das letzte Feld, auf dem Umstürze scheinbar unzweifelhafter Ordnungen noch möglich sind, ist die Geschichte. Weil die Gegenwart nicht mehr grundsätzlich veränderbar und die Zukunft somit nicht mehr gestaltbar erscheint, richtet sich die Veränderungsenergie auf die Vergangenheit.

Die angekündigte Jahrtausendwende reizt zu solch retrospektiver Subversionstätigkeit an. Denn jeder weiß, dass die kalendarische Berechnung, die dieses Ereignis festlegt, fehlbarer menschlicher Systematik entspringt und keiner höheren metaphysischen Fügung. Zudem sagen die magischen 2000 Jahre nur für die christlich geprägte Welt etwas Bedeutsames aus. Vielleicht könnten wir uns manchen Ausbruch chiliastisch erregter Projektion ersparen, wenn wir uns von Heribert Illig inspirieren ließen und einfach 300 Jahre übersprängen. Im Jahr 2297 ließe sich ein trefflicher Historikerstreit darüber führen, wie die Menschen den letzten Millenniumsanbruch gefeiert haben.


Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags entnommen aus: Die Zeit, Nr. 40, 26. September 1997, Seite 64.

Die hinzugefügten Klickverweise stammen natürlich von mir selbst und dienen nur einer ersten Information [T.Ch].

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* Vgl. gerade dazu aber Dieter Lehmanns Beitrag [T. Ch.].


Erstellt am 15.10.2003.

Geändert am 20.2.2010.

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