Das "obskure 9./10. Jahrhundert" (Illig-ema(14-16))

In der nachkarolingischen Zeit möchte Illig wieder ein "dunkles" Jahrhundert sehen. Dazu bringt er das Zitat vom "Saeculum Obscurum", das von dem Kardinal und Geschichtsschreiber Caesar Baronius stammt, der um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert lebte.
Das "Saeculum"-Zitat will er mit der Nennung des französischen Historikers Guy Bois belegt haben. Anschließend bringt er ein weiteres Zitat von Baronius, welches er dem "Grundriß der Geschichte"-Band (6) von Johannes Fried (Die Formierung Europas: 840-1046.- München 1991), S. 3, entnommen hat. Illig schreibt (S. 16), Baronius sei "wegen des Mangels an Schriftstellern" auf die Bezeichnung "dunkles Jahrhundert" gekommen.
Das vollständige Baronius-Zitat lautet bei Fried:
"Siehe, es beginnt das Jahr des Erlösers 900, mit dem ein neues Jahrhundert anhebt, das wegen seiner Rauhigkeit und Unfruchtbarkeit für Gutes das eiserne, wegen der Formlosigkeit überfließenden Übels das bleierne und wegen des Mangels an Schriftstellern das dunkle heißt" (nach C. Baronius, Annales ecclesiastici [1603]).
Baronius' Formulierung würde man heute kürzer als "Kulturlosigkeit" einer Zeit bezeichnen.
Derselben Seite bei Fried entnahm Illig eine Illustration, nach der die Menschen damals nur noch "vegetierten", in "stinkenden Wohnstätten, Pfostenhütten oder gar in den Boden gewühlten Grubenhäusern hausten" usw. Daß Fried zu Beginn des entsprechenden Absatzes ein solches Bild als "Kolportage eines verbreiteten Klischees" bezeichnet, verschweigt Illig seinen Lesern.

Als weiteren "Zeugen" für seine Behauptungen bringt Illig (S. 16) den Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der die Zeit von 850 bis 950 als "die dunkle Zeit innerhalb des finsteren Mittelalters" bezeichnet habe und darüber geklagt habe, sie sei "so unfruchtbar wie das 7. Jahrhundert" ausgefallen.
Die Stelle lautet bei Panofsky aber so:
"Der karolingischen Wiederbelebung, die möglicherweise 877 mit dem Tode Karls des Kahlen endete, folgten acht oder neun Jahrzehnte, die man 'so unfruchtbar wie das 7. Jahrhundert' genannt hat. Dieses Urteil, das vor allem den Standpunkt des Kunsthistorikers wiedergibt, ist neuerdings in Frage gestellt worden. Was man als die dunkle Zeit innerhalb des 'finsteren Mittelalters' bezeichnen kann, hat nicht nur eine Anzahl wichtiger Verbesserungen in Ackerbau und Technik hervorgebracht (die mit einem enormen und notwendigen Bevölkerungswachstum zusammenhängen), sondern auch bemerkenswerte Leistungen in Musik und Literatur."
(E. Panofsky, Die Renaissancen in der europäischen Kunst, zuerst 1960 erschienen, hier nach der von Illig benutzten Neuauflage von 1990, S. 64).

Dem Historiker Harald Zimmermann schreibt Illig (S. 14/16) zu, er habe "sein 'dunkles Jahrhundert'" als eine "fast schon undurchdringliche Finsternis" zwischen 850 und 950 angesiedelt.
Schon auf dem Klappentext von Zimmermanns Buch "Das dunkle Jahrhundert. Ein historisches Porträt" (Graz u.a. 1971), das er hier angeblich "zitiert", hätte Illig erkennen können, worum es wirklich geht:
"Im 'finsteren' Mittelalter galt das zehnte Jahrhundert als das finsterste: 'Saeculum Obscurum' - das dunkle Jahrhundert - ist es seit den Annalen des Cäsar Baronius von 1602 genannt worden. Hinter dieses Urteil setzt der Saarbrücker Ordinarius für Geschichte des Mittelalters, Harald Zimmermann, ein Fragezeichen."
Zimmermann selbst schreibt im Buch auf S. 20 f.:
"Daß es in jedem Saekulum Licht- und Schattenseiten gibt, ist keine Besonderheit des Mittelalters. Überall kann man fragen, wie finster eine dunkle, wie hell eine lichte Epoche sei. (...) Dies gilt auch für das 10. Jahrhundert, das dem heutigen Historiker auf der Reise von unseren Tagen in die Antike, in die als Zeitenwende bezeichnete Epoche des weltbeherrschenden Kaisers Augustus und des weltüberwindenden Christus, sozusagen auf halbem Wege begegnet. Dies gilt auch für die Geschichte Roms und der Kirche im 10. Jahrhundert, die Cäsar Baronius so dunkel und finster erschienen. (...) Auch genügend Quellen zur Darstellung dieses Zeitraumes stehen zur Verfügung, wenn sie auch in Sprache und Stil nur zu einem Teil und nur mit Einschränkungen dem Geschmack eines Humanisten oder auch den Anforderungen des Baronius genügen mögen."


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Text: Dieter Lehmann

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HTML-Fassungen erstellt am 11.9.1999
Zuletzt geändert am 30.11.2005
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