Die "Quellenarmut der agrarischen Welt zur Karlszeit" (Illig-ema(14))

Illig bringt hierzu zwei bombastische Phrasen, die Karl den Großen als wahre Lichtgestalt preisen ("Blitzstrahl", "Phänomen in dunkelster Nacht"). (Zum Glück gibt es solche Gestalten und Formulierungen heute nicht mehr ;-) Daß die Verfasser dieser Formulierungen Historiker des 19. Jahrhunderts waren (Gregorovius, Wattenbach), die zeitbedingt eine Vorliebe zur derartigen Umschreibung "großer Männer" hatten, macht er dem Leser zumindest nicht deutlich. Der unbefangene Betrachter könnte auf die (falsche) Fährte kommen, das sei das heutige Karlsbild der Geschichtswissenschaft (soll er?). Aber vielleicht ist das jetzt zu kleinlich von mir gesehen.
Hätte Illig bei dem von ihm nachfolgend gebrachten Zitat aus Reinhard Schneider: Das Frankenreich. - München 1990 (Grundriß der Geschichte; Bd. 5) nur ähnlich kleinlich hingesehen ...
So schreibt er, man müsse auf Grund der zuvor zitierten Phrasen den Eindruck gewinnen, alles sei "ungemein sicher, bestens tradiert. Allein die Forschung scheint zu wissen, wie dünn der Boden ist, der diesen gewaltigen Kaiser trägt." (ema, 14). Dazu führt er dann ein Schneider-Zitat (S. 94) an:
"Die überragende Größe von Karls historischer Gestalt ... verführte jedoch häufig dazu, daß die schmale Quellenbasis strapaziert oder gar vergessen wurde" (Auslassung so bei Illig!).
M.E. will er dem Leser hier das Bild vermitteln, zu Karl dem Großen und seiner Zeit gäbe es nur ganz wenige Quellen.
Die Äußerung Schneiders bezieht sich aber auf die Quellenauswahl älterer biographischer Arbeiten über Karl. Diese hätten sich nur "einseitig an bestimmten Quellengattungen orientiert", also nur einen Teil der Verfügung stehenden Quellen zur Kenntnis genommen und dadurch ein einseitiges Bild des großen Karl gezeichnet. Schneider geht es in dem fraglichen Abschnitt gerade darum, deutlich zu machen, daß in den letzten Jahren/Jahrzehnten zahlreiche neue Quellen erschlossen wurden, die bisher nicht benutzt worden waren. Vor allem weist er auf die Fortschritte hin, die durch (die früher oft fehlende) fächerübergreifende Zusammenarbeit erzielt wurden. Er hebt ausdrücklich hervor (S. 95 bzw. S. 100), daß gerade im Bereich der Numismatik (Münzforschung) und der Archäologie ständig neue Quellen hinzukommen. Allerdings weist er auch (S. 95) auf die Grenzen archäologischer Erkenntnismöglichkeiten hin: das sollten sich vorlaute "Was denn sonst"- Schlaumeier mal ansehen ;-)
Als zweites Schneider-Zitat bringt Illig die Aussage, auch für Karls Zeit gelte die "ungeheure Quellenarmut gerade für die Geschichte der agrarischen Welt", und will damit wohl suggerieren, man wisse nichts über den Agrarbereich. Dazu ist zunächst zu sagen, daß sich Schneiders Zitat auf eine Aussage des Mediävisten Heinrich Dannenbauer bezieht, der die Welt des Mittelalters als "aristokratisch" bezeichnet hatte. Das einfache Volk habe nichts zu sagen gehabt, keine schriftlichen Äußerungen hinterlassen und deshalb "im Grunde keine Geschichte" gehabt. Hier hatte, wie oben, die einseitige Quellenbenutzung zu einem einseitigen Urteil geführt.
Schneider schreibt:

"Dabei hat Dannenbauer zweifellos nur verkürzt argumentiert, denn der richtige Kern auch dieser Aussage liegt in der ungeheuren Quellenarmut gerade für die Geschichte der agrarischen Welt begründet. Für sie bieten die erzählenden Quellen im Prinzip keine Aussagen, die Urkunden verfolgen andere Zwecke und sind für die bäuerliche Welt kaum zu einem Flüstern zu bringen. Daher erhoffte man sich lange Zeit nur noch von der Archäologie Hilfe, deren Spaten jedoch allenfalls Spuren bäuerlicher Sachkultur ergraben können. Dem anhaltend starken öffentlichen Interesse an Mindestkenntnissen über die ländliche Welt des Frankenreiches konnte hingegen mit akribischer Auswertung von Rechtsquellen entsprochen werden. Diese Texte sind zwar längst bekannt und auch genutzt worden; es ist jedoch verblüffend, wie zusätzliche methodische Wege alten Stoff zu beleben vermögen."

Schneiders pointierte Aussagen müssen noch dahingehend korrigiert und ergänzt werden, daß man Urkunden, die schließlich auch Rechtstexte sind, durchaus einiges zur Agrarwelt entlocken konnte und kann und daß vor allem die Güterverzeichnisse (Urbare) großer Klöster ganz wichtige Quellen zur agrarischen Welt der Karolingerzeit sind.
Bezüglich Illigs Umgang mit den von ihm "zitierten" Aussagen wurde m.E. auch hier wieder deutlich, wie gewollte oder unbewußte Ungenauigkeit ein Bild erzeugt, daß zwar seinen Vorstellungen entspricht, nicht unbedingt aber den Vorstellungen der "zitierten" Autoren.

Vgl. zur Karolingerzeit auch die umfangreiche Neuerscheinung:

799 - Kunst und Kultur der Karolingerzeit : Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn ... / hrsg. von Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff. - Mainz 1999 - Katalog-Handbuch (2 Bde.) : ISBN 3-8053-2456-1 (Buchhandelsausgabe) - Beiträge zum Katalog der Ausstellung: ISBN 3-8053-2590-8 (Buchhandelsausgabe).


zurück im Textzurückblättern

zu Chladek im Netzzur EinleitungDer reale KarlDie WissenschaftEditorial BoockmannRezension SchiefferIlligs ZitierweiseIllig-Vortrag in KölnKarolingische FundeSeibers Tischler (Einhard)Nachleben KarlsZurueck zu Chladek


Text: Dieter Lehmann

Kontakt zum Autor

HTML-Fassungen erstellt am 11.9.1999
Zuletzt geändert am 30.11.2005
Copyright © 1997–2010 Dieter Lehmann

Kontakt zu Tilmann Chladek
zurück nach oben


Platzhalter Platzhalter Platzhalter Platzhalter