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Schiller und Goethe in Weimar, 2009

SCHILLERJAHR 2009 WEIMAR

Wer hat Schillers Schädel geklaut?

Diese Frage kann auch die Jubiläumsausstellung in Weimar nicht beantworten. Die jüngsten Untersuchungen an Schillers Gebeinen haben dennoch Konsequenzen: Der Sarg in der Fürstengruft bleibt leer und das Kassengewölbe auf dem Jakobsfriedhof, wo Schiller zuerst beigesetzt wurde, gewinnt neu an Bedeutung.

Von Michael Bienert

Klack, klack platzen die Kastanienfrüchte auf den schön gepflasterten Parkwegen des Jakobsfriedhofs. Der älteste Begräbnisplatz Weimars liegt ein paar Schritte abseits der großen Touristenströme. Es ist still um die schmale Jakobskirche zwischen den Gräbern. Beim Niederdrücken der Türklinke zeigt sich, dass sie geöffnet ist. Ausgetretene, knarrende Holzstufen führen an fleckigen Wänden entlang in die verwaiste Türmerwohnung, höher zum Glockenstuhl und schließlich  in die hölzerne Turmhaube. Durch kleine Luken schweift der Blick über Weimar und hinüber zum Buchwaldmahnmal auf dem Ettersberg.

Beim Hinabsteigen öffnet sich eine Tür auf eine Holzgalerie. Das schmale, hohe Kirchenschiff mit Bänken auf drei umlaufenden Rängen erinnert unwillkürlich an ein schlichtes Theater des 18. Jahrhunderts. Man ist mutterseelenallein in diesem auratischen Saal und hat wenig Mühe, sich die Weimarer Bürger vorzustellen, die hier vor 200 Jahren Abschied von Schiller nahmen.

„Die Trauerfeier fand ... nachmittags drei Uhr in der Jakobskirche statt, Gen. Superint. Vogt hielt die Gedächtnisrede, Klänge aus Mozarts Requiem rahmten die Feier ein“, erzählt ein breiter Gedenkstein den Besuchern eines bescheidenen  Mausoleums an der Friedhofsmauer. Im sogenannten Kassengewölbe waren Schillers sterbliche Überreste in der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 1805 beigesetzt worden. Hinter dem Gedenkstein dämmert eine idealische Schillerbüste. In die Wände links und rechts sind Tafeln mit den Namen der 63 Toten eingelassen, die zwischen 1755 und 1823 im Kassengewölbe beigesetzt wurden. Der barocke Pavillon war eine standesgemäße Ruhestätte für Weimarer Bürger, die sich kein eigenes Grabmal leisten konnten.


Zwischen Hofdamen, Räten, Beamten, Ärzten und ihren früh verstorbenen Kindern erscheint Schillers Name. „Der Tod kann kein Übel sein, da er etwas Allgemeines ist“, hat er geschrieben. Die schlichte bürgerliche Grablege passt dazu. Sie verlor an Bedeutung, als Schillers vermeintliche Gebeine zwei Jahrzehnte nach seinem Tod in die prächtigere Fürstengruft am anderen Ende der Stadt umgebettet wurden. Goethe hatte es so gewollt. Sein Sarg sollte neben Schillers Sarg von ewiger Dichterfreundschaft künden. Das Kassengewölbe verfiel, wurde abgerissen und im frühen 20. Jahrhundert dann doch wieder aufgebaut.

Jetzt darf es wieder als authentisches Schillergrab gelten, denn in der Fürstengruft ist künftig nur noch ein leerer Schillersarg zu besichtigen. Eine Ausstellung im Weimarer Schillermuseum erklärt, wie es dazu kam. 1826 suchte der Weimarer Bürgermeister Schwabe im Kassengewölbe nach dem Skelett und dem Schädel Schillers. Er identifizierte einen ungewöhnlich großen Schädel mit gut erhaltenen Zähnen, der zunächst in der heutigen Anna Amalia  Bibliothek aufbewahrt und dann vom Kultusminister Goethe mit nachhause genommen wurde.

Dort entstand sein berühmtes Gedicht auf die Reliquie, das den Kult um Schillerschädel zusätzlich befeuerte. Dessen Echtheit wurde im 19. Jahrhundert von Antomen wiederholt in Zweifel gezogen. Deshalb durfte der Mediziner August Froriep 1911 erneut an der Stelle des Kassengewölbes graben und alle erhaltenen Schädel bergen. Er glaubte ebenfalls, den wahren Schillerschädel gefunden zu haben. Seither wurden zwei Schädel in der Fürstengruft aufbewahrt. Vor dem 250. Schillergeburtstag wollte nun die Weimarer Klassikstiftung mit Hilfe modernster Untersuchungsmethoden Klarheit schaffen. Gerichtsmediziner von der Freiburger Universität stellten fest, dass Frorieps Schädel eindeutig von einer Frau stammt. Er passt zur Totenmaske der Hofdame Luise von Göchhausen, die im KIassengewölbe beigesetzt wurde. Die fachkundig zusammengesuchten Knochen, die im Schillersarg auf rotem Samt gebettet waren, stammten von mindestens drei verschiedenen Toten. Der ungewöhnlich große Schädel allerdings, den der Bürgermeister Schwabe identifizierte, gibt nach wie vor Rätsel auf.

Er passt gut zur Totenmaske Schillers. An den Zähnen lässt sich nachweisen, dass er von einem Mann stammt, der wie der Dichter mit etwa 45 Jahren verstarb. Der Schädel weist überdies eine ähnlich starke Belastung mit Schwermetallen auf wie erhaltene Haare Schillers. Solche Kontaminationen waren zu seinen Lebzeiten nicht ungewöhnlich. Sie könnten aber auch ein Hinweis auf eine schleichende Vergiftung sein. Die Tapetenfarbe von Schillers Arbeitszimmers, das Schweinfurter Grün, enthielt einen regelrechten Giftcocktail aus Kupfer, Arsen, Blei und Quecksilber.

Mit Diagrammen, Modellen, Computersimulationen und Filmen werden die Argumente der Gerichtsmediziner in der Ausstellung eindrucksvoll präsentiert werden. Doch die Ernüchterung folgt auf dem Fuß. Für eine Genanalyse wurden die Gräber von Schillers Schwester Christophine, seiner Frau Charlotte und seiner Söhne geöffnet. Deren Verwandtschaftsbeziehung ließ sich genetisch nachweisen, allein der untersuchte Schädel aus der Fürstengruft passt nicht in die Familie. Er stammt von einem mysteriösen Doppelgänger, nicht von Schiller.

Für die Klassikstiftung ist damit klar, dass keines der untersuchten Gebeine in den Schillersarg gehört. Sie wollte alle Spekulationen beenden, doch nun gibt das ungeklärte Verschwinden des echten Schädels dazu neuerlich Anlass. Hat ihn vielleicht ein Sammler im 19. Jahrhundert heimlich ausgetauscht? Die Rezeptionsgeschichte des Schillerschädels lässt diesen Verdacht nicht völlig abwegig erscheinen. In zwei weiteren Ausstellungsräumen sind zahlreiche Gipsabgüsse von Schädel und Totenmaske zu sehen, neben gelehrten Abhandlungen und Versuchen, das Antlitz Schillers zu rekonstruieren. Der tote Dichter war nicht nur für Philologen, sondern auch für Anatomen ein begehrtes Forschungsobjekt. Idealisierende Schillerbildnisse und Denkmalsentwürfe vervollständigen das Schauerkabinett der Dichterverehrung. Kulturhistorisch ist diese ikonografischen Geisterbahn sehr lehrreich, am Ausgang aber hat man genug: Schluss mit der Leichenfledderei!

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 6. Oktober 2009

Schillers Schädel - Physiognomie einer fixen Idee, im Schiller-Museum Weimar bis 31. Januar 2010. Das Begleitbuch zur Ausstellung erscheint im November im Wallstein Verlag.




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© Text und Fotos: Michael Bienert












 
Michael Bienert
Schiller in Berlin
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