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NEUES MUSEUM
"DIALOGE 09" VON SASHA WALTZ
Das Totenhaus erwacht zum Leben von Michael Bienert Im Neuen Museum, wo ab Herbst ausgegrabene Kunstschätze aus Ägypten und römischen Provinzen zu sehen sein werden, findet eine Eingrabung statt. Eine Art Sandkasten ist in den Steinfußboden des hohen ägyptischen Hofs mit seinen farbigen Wandbildern aus dem 19. Jahrhundert eingelassen. Von einem halbnackten Mann angetippt, fallen ein Tänzer und eine Tänzerin in türkisfarbenem Gewand rücklings in den weichen Sand. Langsam verschwinden ihre Körper darin. Archäologie im Rückwärtsgang: Was für eine schöne Idee, die Inaugurationsfeier eines Antikenmuseums so zu eröffnen! Die wenigsten der vielen hundert Besucher allerdings bekommen dieses lebende Bild zu Gesicht. Denn gleichzeitig ereignet sich drüben im Griechischen Hof etwas, von dem nur singende, pfeifende, schrillende Töne zu vernehmen sind. Die Choreographie von Sasha Waltz für fast hundert Tänzer, Instrumentalisten und Sängern in etwa 25 Museumssälen auf vier Etagen ist ein Kritikeralptraum: Man bleibt immer im Ungewissen, ob man nichts Großartiges verpasst, egal ob man an einem Ort geduldig eine Tanzvorführung verfolgt oder den Klängen nach durch die Säle eilt. Das ständige Kommen und Gehen stört indes nicht sehr, weil die Zuschauer ein Teil der Inszenierung sind. Wie die Tänzer erkunden sie flanierend die von David Chipperfield behutsam wiederaufgebaute Kriegsruine, in der sich Altes und Neues, antike und moderne Archiktekturformen von Saal zu Saal auf jedesmal andere Weise verbinden. Während sich die Tänzer auf Balustraden in lebende Standbilder verwandeln oder ihre Runden auf Kreisornamenten des Mittelaltersaals drehen, bilden auch die Zuschauer spontan Reihen, Kreise oder Gruppen. Beides erweckt die Architektur zum Leben, zeigt ihre Möglichkeiten auf. „Dialoge 09“: der lapidare Titel des Abends sagt sehr genau, worum es geht: um die Körper der Tänzer, aber auch der Besucher im Zwiegespräch mit der unendlich vielschichtigen Architektur des Neuen Museums. Der Manierismus des Vaterländischen Saals spiegelt sich im Kleid einer Tänzerin, die unter ihrem Reifrockkostüm fast verschwindet und von zwei Gigolos umworben wird. Die Groteske hat hier ihren passenden Ort, so wie im Ägyptischen Hof die priesterlich-rituellen Bewegungen der Akteure. Im Majolikasaal dienen drei Türen als Spielmaterial für ein Paar. Nebenan in einem leicht klaustrophobischen Durchgangsraum versucht eine asiatische Tänzerin vergeblich, sich aus dem rätselhaften Gefangensein in einer Ecke zu befreien. Neugierig und rücksichtvoll gibt das Publikum den Darstellern den Raum, den sie gerade brauchen. Sie schlängeln sich um die Zuschauer, tollen oder tigern auf allen vieren von Saal zu Saal. Während die leichten, fließenden Bewegungen der Tänzer die Mitte eines Raums füllen, schiebt sich gebeugt an der Wand die weißhaarige Gestalt des Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker vorbei: Der Zufall darf mit Regie führen und bringt großartige Bilder zustande. Die Zeremonienmeisterin Sasha Waltz stöckelt im ärmellosen schwarzen Kleid durch die Säle und schaut gespannt, wie sich ihr Werk weiterentwickelt. Nach zweieinhalb Stunden trommelt ein Musiker lautstark alle Beteiligten im grandiosen Treppenhaus zusammen, dessen nackte Ziegelwände so schön sind und zugleich den Verlust ihrer Dekoration durch den Krieg beklagen. Die Tänzer sinken wie Gefallene, Schlafende, Erschöpfte, Ausruhende zu Boden. Den ganzen Abend wehten Toncluster von Ligeti, Xenakis oder Kurtág durch die alten Mauern des Museums, nun lässt das Ensemble Kaleidoskop den Abend mit einem wehmütigen Adagio von Bruckner sanft ausklingen. Ein Museum ist immer auch ein Totenhaus. Würdiger können es die Lebenden nicht in Besitz nehmen. Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 21. März 2009 © Text und Fotos: Michael Bienert ■ ZUM INTERVIEW MIT DAVID CHIPPERFIELD >>> |
Michael Bienert
Elke Linda Buchholz Stille Winkel in Potsdam Ellert & Richter Verlag Hamburg 2009 ISBN: 978-3-8319-0348-1 128 Seiten mit 23 Abbildungen und Karte Format: 12 x 20 cm; Hardcover mit Schutzumschlag Preis: 12.95 EUR |
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