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NACHRUF I JÜRGEN GOSCH

Auf dem Spielplatz

von Michael Bienert

Wenn Kinder miteinander spielen und sich in Räuber, Ritter oder Indianer verwandeln, dann braucht es keinen Regisseur, kein perfektes Bühnenbild oder echt aussehende Kostüme. Das Spiel funktioniert - allein durch Fantasie und Verabredung. Es kann hinreißend komisch sein, und manchmal endet es mit echten Tränen. Jürgen Gosch hat seine beiden jüngsten Kinder gern auf Spielplätze begleitet. „Ich könnte dort Tage verbringen", sagte er in einem Interview. In Theateraufführungen ging dieser Regisseur hingegen nur ungern. Er empfand eine Art Scham, wenn er die Bemühungen auf der Bühne sah, ein abgekartetes Spiel zu wiederholen. Gosch suchte nach einem Weg, möglichst viel von der Spontaneität und Anarchie eines Kinderspielplatzes in den Theaterbetrieb zu retten. Dazu reduzierte er den Apparat auf das Allernotwendigste. Von dem Bühnenbildner Johannes Schütz ließ er sich fast leere Räume bauen, in denen die Schauspieler bei Bedarf Stühle und Tische rückten, sich umkleideten oder splitternackt mit Farbe bemalten. Oft genügte ihm eine einzige Lichtstimmung für eine ganze Aufführung. Auch im Zuschauerraum blieb das Saallicht meistens an. Keine Sekunde ließ Gosch die Illusion zu, man befinde sich an einem anderen Ort als eben im Theater.

Er verwandelte es in ein Spielzimmer, in dem sich Unvorhersehbares, Unerhörtes, Staunenswertes ereignete. Eine nackte Männerhorde vergoss kübelweise Theaterblut, beschmierte sich mit Fäkalien und zerlegte Tische und Stühle zu einem glitschigen Trümmerhaufen, wie in Goschs Düsseldorfer „Macbeth"-Inszenierung. In Roland Schimmelpfennigs „Reich der Tiere", inszeniert am Deutschen Theater in Berlin, gönnte Gosch den Zuschauern das Vergnügen, den nackten Schauspielern bei der Ganzkörperbemalung und Verwandlung in ein Zebra, eine Wildkatze oder einen Marabu zuzusehen. Auch dabei hatte man nie das Gefühl, den Schauspielern werde etwas aufgezwungen. Unschuldig wie die Kinder suhlten sie sich in der Farbe - und duschten sie am Ende des Spiels auf offener Bühne wieder ab.


Das Vermeiden der Illusion war bei Gosch nicht nur eine Stilfrage, schon gar keine Masche oder die Demonstration einer asketischen Theatertheorie. Seine Konzentration auf das Wesentliche des Theaters brachte die Schauspieler zum Leuchten, egal, ob es Schauspielschulabsolventen waren oder mit allen Wassern gewaschene Bühnenstars wie Ulrich Matthes und Corinna Harfouch in „Wer hat Angst vor Virgina Woolf?". Gosch gab ihnen Raum, aus Routine und Konvention auszuscheren und sich in Neuland vorzutasten, nicht nur während der Proben, sondern auch während späterer Aufführungen. Statt eines Konzepts entwickelte Gosch mit den Schauspielern ein möglichst zartes, aber reißfestes Netz von Verabredungen. „Wenn man an der Aufführung ablesen kann, dass sie nicht inszeniert wurde, sondern aus dem Spielen entstanden ist, dann freut mich das", hat Gosch einmal gesagt. Ulrich Matthes sprach von enormer Freiheit und Mitverantwortung, die der Regisseur den Schauspielern übertrug.

Illusionslosigkeit zeichnete nicht nur seine Theaterästhetik aus, sondern auch seine Weltsicht. Sie rührte her vom Blick eines Kindes, das im zerstörten Nachkriegsberlin aufwuchs. Gosch wurde 1943 geboren, der Vater kehrte nicht aus dem Krieg zurück. Das Karge und Harte der Jugendjahre im russisch besetzten Ostberlin färbte sogar noch seine späten Tschechow-Inszenierungen. Tschechows unbarmherzige Genauigkeit und liebevolle Zugewandtheit bei der Menschendarstellung war dem Regisseur nah.

Seine Verachtung jedweder Ideologie brachte ihn zwangsläufig mit den Kunstaufsehern in der DDR in Konflikt. An der Berliner Volksbühne, wo seine Karriere als Schauspieler und Regisseur begann, sorgte Gosch 1978 mit einer fatalistischen Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena" für Empörung. In der Bundesrepublik war man zum Glück schon auf das störrische Talent aufmerksam geworden, bei Jürgen Flimm in Köln und Hamburg konnte der Regisseur weiterarbeiten. Seine nüchternen und sperrigen Inszenierungen wurden respektiert, doch auch als langweilig und puritanisch angefeindet.


1988 scheiterte Gosch an der Berliner Schaubühne als Nachfolger Peter Steins, der die künstlerische Leitung aufgegeben hatte; sein reduktionistisches Vorgehen war am Haus des ruhmreichen Vorgängers nicht durchzusetzen. Nach der Wiedervereinigung fand Gosch am Deutschen Theater unter der Leitung Wolfgang Langhoffs eine neue Heimat, wurde aber das quälende Gefühl nicht los, den richtigen Ton immer wieder zu verfehlen: „Ich habe mich durchgeschämt und so durchgearbeitet bis zum Ende."

Aus der langen künstlerischen Krise ging Gosch wie befreit hervor. Er fand eine neue Balance zwischen seinem starken Formbewusstsein und dem Zulassen von kreativer Anarchie auf den Proben. Seit 2004 wurden jährlich Inszenierungen von Gosch zum Theatertreffen eingeladen, manchmal gleich zwei. Gosch setzte die Maßstäbe, an denen sich der übrige Theaterbetrieb messen lassen musste. Überschattet wurden diese späten Triumphe durch eine fortschreitende Krebserkrankung des Regisseurs, die seine Schauspieler noch mehr anspornte, über ihre Grenzen zu gehen.

Die Begegnung mit Jürgen Gosch habe das eigene Leben verändert, sagen viele, die in den letzten Jahren mit ihm gearbeitet haben. Seine Suche und seine Konzentration auf das Wesentliche des Theaters hatte eine reinigende Wirkung: auf die Schauspieler, auf das Publikum, auch auf eine in ihren ästhetischen Maßstäben verunsicherte Theaterkritik. Das wird über seinen Tod hinaus nachwirken. In der Nacht zu Donnerstag ist Jürgen Gosch seiner Krankheit erlegen, er wurde 65 Jahre alt. Sollte es auch im Theaterhimmel einen Kinderspielplatz geben, dann wird man Jürgen Gosch jetzt dort finden.


ERSTDRUCK: STUTTGARTER ZEITUNG vom 12. Juni 2009










 
 Michael Bienert
 Stille Winkel an der
 Berliner Mauer

 Ellert & Richter Verlag
 Hamburg
 ISBN: 978-3-8319-0365-8
 144 Seiten mit
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 Format: 12 x 20 cm;
 Hardcover mit
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 Preis: 12.95 EUR
 

 
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Theaterkritiken

Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
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Der Regisseur Jürgen Gosch starb am 11. Juni 2009 in seiner Berliner Wohnung. Seine letzten Arbeiten und Auftritte in der Öffentlichkeit hat Michael Bienert für die STUTTGARTER ZEITUNG aufmerksam verfolgt.
Hier finden sie außer einem Nachruf auch ein ausführliches Porträt vom Dezember 2008, sowie Besprechungen wichtiger Inszenierungen von Jürgen Gosch. Darunter seiner letzten Regiearbeit Idomeneus am Deutschen Theater, und seiner inzwischen bereits legendären Möwe an der Volksbühne. Außerdem von Wer hat Angst vor VirginaWoolf?, von Onkel Wanja, von Das Reich der Tiere, von  Ein Sommernachtstraum, von Auf der Greifswalder Straße und Im Schlitten Arthur Schopenhauers.