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THEATERKRITIK

Das Reich der Tiere
von William Shakespeare. Premiere am Deutschen Theater am 1. September 2007. Regie: Jürgen Gosch. Mit Ernst Stötzner, Falk Rockstroh, Kathrin Wehlisch, Dörte Lyssewski, Wolfgang Michael und Niklas Kohrt.


Schauspieler als Opfer der Unterhaltungsindustrie


von Michael Bienert

Sie haben dem Theater zuverlässig gedient, sechs Jahre lang, Abend für Abend in den immergleichen Rollen. Nun droht den fünf Schauspielern die Entlassung in die Arbeitslosigkeit, denn das Stück „Das Reich der Tiere“ wird abgesetzt. Entsprechend gereizt ist die Stimmung in der Künstlergarderobe, einem hellgrauen Bühnenkasten, wie ihn der Bühnenbildner Johannes Schütz schon oft für Inszenierungen der Regisseurs Jürgen Gosch entworfen hat.

Außer Stühlen stehen diesmal große Farbeimer in der Mitte der Riesenkiste, an den Wänden lehnen Spiegel. Die Schauspieler sind ihre eigenen Maskenbildner. Nachdem sie sich vor den Augen des Publikums nackt ausgezogen haben, pinseln sie sich von den Fußsohlen bis zur Haarspitze farbig ein. Aus Frankie (Falk Rockstroh) wird erst ein rabenschwarzer Mohr, dann durch Auftragen breiter Streifen ein Zebra. Der gelb gepuderte Peter (Ernst Stötzner) ist mit seiner zotteligen Perücke ein königlicher Theaterlöwe. Frankie und Peter spielen Hauptrollen in dem Stück, das wir Zuschauer im abrupten Wechsel mit den Backstageszenen gezeigt bekommen. Es erzählt, wie das friedliche Zebra die Krone im Reich der Tiere verlor und sich der gefrässige Löwe mit Gewalt und List an die Macht putschte.

Die bizarre Musicalparodie mit Tanz und Gesang ist insgeheim eine traurige Parabel auf das verlorene Paradies. Und auch die Parallelhandlung in der Künstlergarderobe hat der Dramatiker Roland Schimmelpfennig doppelbödig angelegt. Dort kämpft jeder für sich allein gegen die Unlust, den Stumpfsinn und den Verschleiß nach sechs Jahren monotoner Kunsthandwerkerei, gegen die Zukunftsangst und um ein neues Engagement. Den Freischaffenden der Unterhaltungsindustrie geht es dabei nicht viel besser als den Fabrikarbeitern im Frühkapitalismus. Oder der wachsenden Zahl von Freiberufler, die auf dem heutigen Arbeitsmarkt verschlissen werden, ohne gegen Berufsrisiken versichert zu sein.

Da lässt die junge Mutter Sandra (Dörte Lyssewski), von einem Kollegen geschwängert, ihr Neugeborenes im Stich ab, nur um wieder als Antilope auf der Bühne ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der nervös mit den Armen flatternde Marabu Dirk (Wolfgang Michael) hat eiternde Stellen auf der Haut vom täglich angeklebten und wieder abgerissenen Federschmuck. Die geschmeidige Ginsterkatze Isabel (Kathrin Wehlisch) quält eine schwere Fußverletzung, die sie nicht behandeln lässt, wohl aus Angst, krank geschrieben zu werden. Sie alle machen mit zusammengebissenen Zähnen weiter: The show must go on, koste es, was es wolle.

Schonungslos stellt der Theaterbetrieb an diesem Abend seine Kehrseite aus, nicht anklagend oder lamoryant, sondern mit bissiger Selbstironie. Das Vergnügen liegt darin, den fast durchweg nackten Schaupielern drei Stunden lang bei ihrem virtuosen Changieren zwischen Menschsein und Tiersein, albernem Mummenschanz und Berufsdepression zuzuschauen. Nichts wird ausgelassen, bis der Bühnenkasten mit Farbe verschmiert und zugemüllt ist. Zuletzt schleppen die Spieler Brausen auf die Bühne und schrubben die ganze ekelhafte Theaterschmiere von sich ab.

Einer macht Karriere: Frankie schleppt einen blasierten Jungdramatiker betrunken in seine Wohnung (Niklas Kohrt), der dem Autor Schimmelpfennig nicht unähnlich sieht. Es gelingt Frankie, Namen und Adresse in dessen Jackentasche zu deponieren - so kommt er zu einem Auftritt in einem amerikanischen Werbespot. Seine neidischen Kollegen dürfen in einem preisgekrönten Stück des Jungdramatikers mitspielen, das sie für total blödsinnig halten, aber was bleibt ihnen übrig? Monströs maskiert als Ketchupflasche, Pfeffermühle, Toast und Ei verneigen sie sich zum Schlußapplaus. Auf die Vertierung der Schauspieler folgt die totale Verdinglichung, so ist dieser satirische Ausblick in die Zukunft des Berufs wohl gemeint. Umso wichtiger, dass es neben der Unterhaltungsindustrie weiter subventionierte Kunstinseln gibt, wo die Schauspielerei noch eine Entdeckungsreise sein kann, wie bei dieser gelungenen Uraufführung am Deutschen Theater.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 3. September 2007

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