www.text-der-stadt.de
Startseite

REISEBILDER

Die Wartburg mit und ohne Sänger
 

Von Elke Linda Buchholz

„Wer ein Ohrenleiden hat, dem kann ich nur raten, dem Landgrafenhofe fern zu bleiben: Denn kommt er dorthin, so wird er wahrhaftig taub. Ich habe das Gedränge bei Hofe bis zum Überdruss mitgemacht: Ein Haufen tobt heraus, ein anderer hinein, und das bei Tag und Nacht,“ schrieb Walther von der Vogelweide. Die Worte kommen einem in den Sinn, wenn man im Touristengetümmel auf der Wartburg steht - auch wenn seine Verse über die Distanz von acht Jahrhunderten hinweg im O-Ton fremd in unseren Ohren klingen: „ein schar vert uz, diu ander in, naht unde tac.“ In den Jahren zwischen 1200 und 1207 verkehrte Walther am Hof des thüringischen Landgrafen Hermann I. und lobte dessen literarisches Mäzenatentum über den grünen Klee: Andere Fürsten seien zwar auch freigiebig, aber nicht so beständig wie dieser: „er was ez e und ist ez noch“. Wie eine Blüte leuchte seine Freigiebigkeit durch den Schnee: „der Dürnge bluome schinet dur den sne - sumer und winter glüet sin lop als in den ersten jaren.“

Moderne Literaturhistoriker geben dem Sänger recht: Hermann I. von Thüringen war einer der bedeutendsten Literaturförderer seiner Zeit. In seinem Auftrag vollendete Heinrich von Veldeke seine „Eneit“, eine deutsche Bearbeitung des antiken Äneas-Stoffes, nachdem das unvollendete Manuskript Jahre zuvor auf einer Hochzeit am Thüringer Hof entwendet worden und dann unverhofft wieder aufgetaucht war. Auch Wolfram von Eschenbach, der Autor des 25 000 Verse umfassenden „Parzival“, profitierte von Hermanns Gunst. Auf solche Männer waren die mittelalterlichen Autoren angewiesen. In klingendem Fürstenlob zahlten sie den Herrschenden ihre Freigiebigkeit heim und sicherten so deren Ruhm. Bis heute.

Militärhistorisch spielte die Wartburg keine große Rolle. Ihre mythische Kraft bezieht sie aus der literarischen Tradition. Mächtig ragt der imposante, im 12. Jahrhundert begonnene Bau auf einem steilen Bergrücken im Thüringer Wald über dem Städtchen Eisenach auf: UNESCO-Weltkulturerbe und auch ein literarisches Monument. Für DDR-Bürger gehörte ein Wartburgbesuch zur Schulbildung. Für Schüler in der anderen Hälfte Deutschlands rückte die Wartburg in nebelige Ferne, wurde zu einem Ort mit märchenhafter Aura, kaum wirklicher als das Wirtshaus im Spessart oder das sagenhafte Vineta. In ihrem (1982 in Stuttgart uraufgeführten) Theaterstück „Ritt auf die Wartburg“ lässt die Stuttgarter Autorin Friederike Roth vier Westfrauen zu einem Wochenend-Selbsterfahrungstrip gen Wartburg aufbrechen, der zu einer Reise in eine fremde Welt wird: mit Friseurbesuch, Kirchgang, Tanzabend und einem gescheiterten Eselsritt auf die Burg, die ein bloßer Schemen in der Ferne bleibt, kein realer Schauplatz.

Doch hier soll er stattgefunden haben, der legendäre Sängerkrieg auf der Wartburg. Zwar bezweifeln Historiker, dass es ihn wirklich gegeben hat. Doch reale Personen treten in ihm auf, und der mutmaßliche Schauplatz lässt sich bis heute besichtigen: der große Sängersaal im mittelalterlichen Palas der Wartburg. Moritz von Schwind hat dort in einem großen Wandbild 1855 der literarischen Legende märchenhafte Wirklichkeit verliehen - romantisches Breitwandkino aus einer mittelalterverliebten Zeit. Die handelnden Personen des Sängerwettstreits stellte schon die Manessesche Liederhandschrift des frühen 14. Jahrhunderts dem Leser in einer Miniatur vor Augen: Landgraf Hermann I. und seine Gemahlin Sophie sowie die Schar der Sänger, den blondgelockten Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und Reinmar den Alten sowie einige wohl der Phantasie entsprungene Autoren, wie Heinrich von Ofterdingen. Die versammelten Sängerdichter gerieten im Wettstreit so hart aneinander, dass es um Leben und Tod ging und der unterlegene Heinrich von Ofterdingen sich unter den Mantel der Landgräfin flüchten musste. Erst ein Jahr später beendete der ungarische Magier Klingsor den Streit und nutzte seine Anwesenheit in Eisenach, um die Geburt der Heiligen Elisabeth vorherzusagen.

Die erblickte dann auch prompt 1207 als Königstochter in Ungarn das Licht der Welt und traf schon als kleines Mädchen auf der Wartburg ein, um später  den Sohn des literatursinnigen Landgrafen Hermann zu heiraten. In der Lebensgeschichte der Heiligen mischen sich Legende und Wirklichkeit ebenso untrennbar wie in der Geschichte der Wartburg, auf der sie viele Jahre lebte.

Generationen von Germanisten haben daran gearbeitet, die Überlieferungsgeschichte des Wartburgkrieges auseinanderzudröseln. Die Story wuchs peu à peu aus der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts hervor, wurde immer wieder umgeschrieben, ausgesponnen und erweitert. Dramaturgische Ungereimtheiten und abrupte Handlungssprünge blieben. Die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts erschlossen den Stoff einem modernen Lesepublikum: Novalis nahm sich der Gestalt Heinrich von Ofterdingens an, ließ den Sängerwettstreit aber links liegen. Ihn griffen E.T.A. Hoffmann („Der Kampf der Sänger“) und Ludwig Bechstein auf. Richard Wagners 1845 uraufgeführte „Tannhäuser“-Oper speiste den Stoff endgültig in den nationalen Kulturbildungskanon ein, wobei er ihn gründlich mit anderen Sagenmotiven verquickte.

Zu Wagners Zeit wurde auch an der steinernen Wartburg wieder gewerkelt. Aufwändige Neubauten im historisierenden Mittelalterstil machten den Baukomplex zu dem, was er heute ist: ein geschlossen wirkendes Ensemble aus Original und Phantasie. Noch Goethe hatte den Burgpalas im Herbst 1777 ganz anders erlebt, als „nüchternen öden Kasten mit einem ungeheuren Dach und kleinen Fenstern, in dessen Innern eine unbeschreibliche Unbehaglichkeit herrscht.“ Dass der Weimarer trotzdem länger hier verweilte, lag an der atemberaubenden Aussicht: „Oh man sollte weder zeichnen noch schreiben!“ seufzte er in einem Brief an Charlotte von Stein. Goethe regte an, auf der Wartburg ein Museum zu gründen. Die Früchte dieser Idee konnte Friedrich Rückert Jahrzehnte später in Augenschein nehmen: „Auf der Wartburg sah ich neulich / Der Anblick war mir kaum erfreulich / Die Rüstungen so hingestellt / als stäk in jeder ein alter Held. ... Ich sprach: das sind dieselben Recken / Die uns jetzt in Romanen erschrecken. / Die Panzer glänzen und rasseln wohl / Aber die Männer sind innen hohl.“

Rückerts 1841 veröffentlichter Seitenhieb auf die schwächelnde Romanliteratur trifft noch heute. Und die Museen ringen weiterhin mit dem Wunsch, vergangenes Leben mehr oder weniger authentisch wieder aufleben zu lassen. Im 19. Jahrhunderts verpflanzte man das Nürnberger Studierzimmer des Humanisten und Dürer-Freundes Willibald Pirckheimer auf die Wartburg, heute wirkt es völlig deplaziert.

Der Tintenfleck an der Wand der Luther-Stube auf der Wartburg wird - anders als früher - nicht wieder aufgefrischt. Dass der Reformator hier sein Tintenfass nach dem Teufel geworfen haben soll, entpuppte sich als Legende. Auch an dem klobigen Tisch hat er nie gesessen, der echte wurde von früheren Wartburgpilgern zu Souvenirs zerschnitzt. Trotzdem bewahrt das hoch oben über den Wäldern wie ein Schwalbennest sitzende Stübchen die Aura eines literarischen Ortes. „Ich laß mich eintun und verbergen, weiß selbst noch nicht wo...“ hatte Martin Luther im Mai 1521 an den befreundeten Maler Lucas Cranach geschrieben, als sein Leben durch den päpstlichen Kirchenbann und die Reichsacht akut in Gefahr war. Kurfürst Friedrich der Weise verschaffte dem aufmüpfigen Augustinermönch durch eine fingierte Entführung die Ruhe für seine Übersetzung des Neuen Testaments. Während Luthers Bart wuchs und das Haupthaar die Mönchstonsur überwucherte, vollendete er das Riesenprojekt in kaum 11 Wochen. Erstauflage: 3000 Exemplare. Sie war schnell vergriffen.



Anders als die mehr als ein Dutzend deutsche Bibelübertragungen zuvor, wollte Luthers Übersetzung vor allem verständlich sein: „Denn man muß nicht die Buchstaben der lateinischen Sprache fragen, wie man deutsch reden solle, wießs die Esel tun, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, die einfachen Mann auf dem Markt danach fragen und denselben auf das Maul sehen, wie sie reden,... da verstehen sie es dann un merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“ Dreihundert Jahre später hat Heinrich Heine auf seiner Harzreise Luthers Stube besucht: „Ein braver Mann, auf den ich keinen Tadel kommen lasse...“ Unten in der Altstadt betreibt die Evangelische Landeskirche ein Luther-Museum in einem Fachwerkhaus, wo er 1498 als armer Lateinschüler gewohnt haben soll.

Weit mehr Originales hat das zweite Literaturmuseum am Ort zu bieten, die Wagner-Reuter-Villa, etwa eine Viertelstunde Fußweg vom Lutherhaus entfernt am Rand der historischen Innenstadt gelegen. In dem großzügigen Neorenaissance-Bau hat der Mecklenburger Schriftsteller Fritz Reuter von 1863 bis zu seinem Tod 1874 gewohnt. Mehrere Jahre seines Lebens hatte er wegen seines Burschenschaftsengagements in Festungshaft verbracht. Auch die Geschichte der Burschenschaftsbewegung ist eng mit der Wartburg verbunden, hier forderten 500 Studenten 1817 am 300. Jahrestag der Reformation einen deutschen Nationalstaat unter dem Motto: Ehre, Freiheit, Vaterland. Fritz Reuter vollendete in Eisenach seinen plattdeutschen Roman „Ut mine Stromtid“, den dritten Teil seiner „Ollen Kamellen“. In der Beletage sind die original möblierten Räume erhalten. In friedlicher Koexistenz zu Reuters Hinterlassenschaften logiert im Erdgeschoss eine der weltgrößten Richard-Wagner-Sammlungen, von der Totenmaske bis zum Theaterzettel. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts von der Stadt Eisenach angekauft: Man wusste offenbar, was man dem Opernkomponisten schuldig war.

Der Ausblick vom Balkon Fritz Reuters hat sich seit 1863 wenig verändert: „Rechts Landhäuser, Gärten und Höhen, links ein wunderschöner Wald, der sich bis zur Wartburg hinaufzieht... In guter Büchsenschussweite sausen die Lokomotiven der Kasseler und Werrabahn an uns vorüber, und in Steinwurfsweite ist die Eselei, ein Institut für Esel und junge Damen, die die Wartburg bereiten wollen.“ Bis heute führt der schönste Wanderweg zur Burg direkt an Reuters Villa vorbei. Und noch immer stehen ein Stück weiter oben Esel bereit, um Fußlahme, Kinder und Romantiker auf ihrem Rücken das letzte, steile Stück Weges durch den Wald zur Wartburg hinaufzutragen.


Zuerst erschienen in: literaturblatt für baden-württemberg, H. 2/2008

www.wartburg-eisenach.de



© für den Text und Fotos: Elke Linda Buchholz







 
 Michael Bienert
 Elke Linda Buchholz

 Stille Winkel in
 Potsdam


 Ellert & Richter Verlag
 Hamburg 2009
 ISBN:
 978-3-8319-0348-1

 128 Seiten mit
 23 Abbildungen
 und Karte
 Format: 12 x 20 cm;
 Hardcover mit
 Schutzumschlag
 Preis: 12.95 EUR



Die Bücher
Audioguides
Stadtführungen
Aufsätze im www
Kulturrepublik
Theaterkritiken
Ausstellungen
Reisebilder
Kulturmenschen
Denkmalschutz

Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Impressum
Kontakt