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THEATERKRITIK


Quai West von Bernard-Marie Koltès. Premiere an der Volksbühne am 10. März 2009. Mit Peter Kremer, Pascale Schiller u. a. Regie: Werner Schroeter


Vergessen am Ufer


von Michael Bienert


Es sieht danach aus, als sollten die Volksbühnenbesucher die ganze Spielzeit auf weißen Plastiksäcken durchleiden. Schon lästern Berliner Kulturpolitiker, die Entfernung der Parkettbestuhlung sei nur ein Trick des Intendanten Frank Castorf, den Besucherrückgang zu verschleiern. Zugegeben, die Sitzsäcke haben auch Vorteile. Stammgäste benutzen sie lieber als Liegematraze und Kopfkissen. In der Horizontalen lassen sich ermüdende Theaterabende leichter aushalten. Bei der letzten Premiere am Mittwoch übermannte den Liegenachbarn des Theaterkritikers - Tatsache! - schon nach zehn Minuten der Schlaf. Der arme Mann schnarchte leider so laut, dass ihn andere Zuschauer ganz schnell aus seinen Träumen rissen.

Die Volksbühne träumt weiterhin von der See. Maritime Motive ziehen sich als roter Faden durch die Spielzeit. Sie begann mit dem „Ozean“-Drama Heinrich von Gagerns (mehr > ) und Schillers „Seestücken“, zwei theaterhistorischen Ausgrabungen, deren Uraufführung schlicht überflüssig war. „Quai West“ von Bernard-Marie Koltès hat ein ganz anderes Kaliber. Und der Regisseur Werner Schroeter, bekannter durch seine Filme und Operninszenierungen, ist so klug, gar nicht viel Wind zu machen. Er stellt die acht Figuren des Stücks einfach auf eine große kreisrunde Spielfläche, die sich sachte neigen und drehen lässt. Manchmal wehen Geräusche wie von einem fernen Hafen über die Bühne. Auf dem weißen Rundhorizont schillern zarte Wasserreflexe.

Dass dies eine ganz elende, gottverlassene Gegend ist, erschließt sich nach und nach aus dem Habitus und den Monologen der Figuren. An dem ehemaligen Hafen hält keine Fähre mehr, Strom- und Wasserversorgung wurden eingestellt. Dass hier noch Leute leben, hat keinen Verantwortlichen interessiert oder wurde vergessen. Wo genau und in welchem Land sich der Hafen befindet, bleibt offen. Doch jeder Zuschauer weiß um die Nähe solcher Randzonen der Gesellschaft, für die niemand zuständig sein will und in denen höchstens mal die Polizei vorbeischaut, wenn sie Spuren eines Verbrechens folgt.

Der Bankmanager Maurice (Peter Kremer) will in dem öden Hafenbecken seinem Leben ein Ende setzen, weil er Millionen veruntreut hat. Er rechnet nicht damit, dass er auf Menschen trifft, die in ihm den Vertreter einer für sie unerreichbaren Glitzerwelt erkennen. Sie nehmen Maurice und sein Luxusauto als Geiseln. Damit sitzt auch seine schicke Sekretärin Monique (Pascale Schiller) in der trostlosen Gegend fest. Um sich zu befreien, versucht sie mit den Bewohnern ins Geschäft zu kommen. Der junge Charles (Sebastian König) wittert seine Chance, organisiert Autoschlüssel und Geld, macht aber die Rechnung ohne den Straßenjungen Fak (Christoph Lewandowski), der weitere Autoteile ausgebaut hat. Fak ist hinter der Schwester von Charles her, der hypernervös tippelnden Claire (Maria Kwiatkowsky). Deren traumatisierte Mutter Cecile (Silvia Rieger) zersticht in ihrem Wahn die Autoreifen, der kriegsversehrte Vater (Uwe Preuss) entpuppt sich als finsterer Rassist.

Sie alle reden aufeinander ein, ohne ihr innerstes Geheimnis zu lüften oder in einen Dialog zu kommen. Jeder sucht nur rücksichtslos seinen Vorteil. So bleiben alle im Milieu gefangen. Charles, der am energischsten hinaus in die Wohlstandswelt strebt, wird zuletzt von dem stumme Mulatten Abad (Toks Körner) erschossen. Latente Gewaltverhältnisse münden in mörderische Zerstörung.

Der leere Raum um die Figuren, ihre künstliche Sprache und Motorik lassen den Gedanken an eine Sozialreportage vom Rand der Gesellschaft nicht aufkommen. Da die Inszenierung Bilder von materieller Armut vermeidet, tritt die seelische Bedürftigkeit nackt hervor. Die kleinen Dramen der Gescheiterten und Vergessenen fügen sich zu einem einzigen großen Drama der Hoffnungslosigkeit. Für den dümpelnden Volksbühnendampfer ist der zweistündige Theaterabend noch keine Rettung, aber schon mal ein Silberstreif am Horizont.


Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 12. März 2010

Zum Spielplan: www.volksbuehne-berlin.de


© Text und Foto: Michael Bienert
















 










Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
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