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THEATERKRITIK


Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes von Roland Schimmelpfennig. Deutsche Erstaufführung am Deutschen Theater am 19. November 2010. Mit Maren Eggert, Ulrich Matthes, Sophie von Kessel und Norman Hacker. Regie: Martin Kusej.

Der Kaufmann von Berlin von Walter Mehring. Premiere an der Volksbühne am 20. November 2010. Mit Sophie Rois, Dieter Mann, Marc Hosemann, Volker Spengler u. a. Regie: Frank Castorf.


Schimmelpfennig und Inflationsgeld

von Michael Bienert

Sie haben ein Haus mit Garage, wie peinlich. „Garage ist das Allerletzte“, kichert Liz, die ein frisches Brot gebacken hat, um die Rückkehr ihrer besten Freunde zu feiern. Aber Carol und Martin können nicht mitlachen. Die beiden Ärzte haben weder Haus noch Garage. Sie waren sechs Jahre in Afrika, in einem Land, wo die Leute wegsterben wie die Fliegen. Wieder zuhause wird ihnen klar, dass sie den Zeitpunkt verpasst haben, ein Kind zu bekommen und ein Haus mit Garage zu bauen.

„Ihr habt so einen anderen Blick. Wie Leute, die was gesehen haben.“ Liz findet das sexy. Auch wenn die Freunde müde aussehen. Auf Carol und Martin wirken die erfolgreich Daheimgebliebenen, Liz und ihr Mann Frank, ungewohnt bleich und ein bisschen fett.
 
Zwei Paare wollen gemeinsam einen netten Abend verbringen, der dann aber mit Tränen und Ohrfeigen endet. Diese boulevardeske Konstellation nutzt der Dramatiker Roland Schimmelpfennig in „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ zu einer Studie über das globale Gefälle der Lebenschancen – und darüber, wie hilflos wir mit dem Wissen davon umgehen, wir Wohlgenährten, die wir abends im voll klimatisierten Staatstheater sitzen dürfen.

Regisseur Martin Kusej choreografiert die vier Schauspieler in einem leeren, gnadenlos ausgeleuchteten Bühnenkasten (von Annette Murschetz), hinter dem irgendwann ein riesiger Wohlstandsmüllhaufen vom Schnürboden fällt. Stück und Regie erinnern sehr an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virgina Woolf?“ oder Yamina Rezas „Gott des Gemetzels“, karg wie sie Jürgen Gosch vor wenigen Jahren inszeniert hat. Als Gosch 2008 starb, ist Schimmelpfennig sein wichtigster Uraufführungsregisseur verloren gegangen, dennoch trägt dieser Abend auch seine Handschrift.

Sophie von Kessel und Norman Hacker spielen mit schöner Zurückhaltung die beiden Entwicklungshelfer. In Afrika hatten sie ein krankes Kind angenommen, für das Liz und Frank Geld schickten; nach der Abreise der weißen Pflegeeltern ist es wahrscheinlich gestorben. Liz (Maren Eggert) reagiert auf die Nachricht hysterisch. Ihre verhätschelte Tochter wollte dem Pflegekind eine Plastikpuppe schicken, was soll sie dem Kind nun sagen? Ihr Mann Frank (Ulrich Matthes) drückt alle unguten Gefühle einfach weg: „Dafür kann keiner was. Ist nicht mein Fehler.“

Gradlinig heruntergespielt, wäre die Geschichte in einer knappen halben Stunde erzählt. Durch chronologische Vor- und Rücksprünge und Wiederholungen dehnt Schimmelpfennig den Abend auf die dreifache Länge. Die Inszenierung tritt höchst kunstvoll auf der Stelle. Sie bohrt im latent schlechten Gewissen der privilegierten Staatstheaterbesucher, verharrt jedoch an der Oberfläche, gibt lediglich ein deprimierendes Stimmungsbild. Weil das den Theaterbetrieb nicht stört oder weil das Theater es nicht besser kann?

Beim Deutschen Theater kann man immerhin drüber streiten, ob der Verbrauch an Zeit und Ressourcen gerechtfertigt ist. Nicht so an der Volksbühne, die doch mal berühmt war für die rauschhafte Verausgabung von Energie und Phantasie. Kaum vorstellbar, das dieses Theater unter Frank Castorfs Leitung lange die Szene beherrschte, national und international. Hier findet nur noch die sinnlose Vernichtung von Wohlwollen und – vor allem – von Stimmbändern statt.

Am Wochenende scheiterte der jüngste Versuch Castorfs, aus der endlosen Abwärtsspirale auszubrechen. Auf dem Spielplan stand Walter Mehrings „Der Kaufmann von Berlin“, eine schrille Zeitrevue, mit der Erwin Piscator 1929 die deutsche Inflation auf die Bühne brachte. Piscator träumte damals von einem „Totaltheater“, mit allen verfügbaren technischen und schauspielerischen Mitteln wollte er die großen gesellschaftlichen Bewegungen auf die Bühne bringen.

Erzählt wird vom Aufstieg und Fall des armen ostjüdischen Zuwanderers Kaftan (Sophie Rois), der in Berlin erfolgreich eine Bank gründet und Millionen jonglieren lernt. Dabei wird er von einem nichtjüdischen Rechtsanwalt (Dieter Mann) unterstützt und zuletzt mit dubiosen Waffengeschäften in die Pleite manövriert. Kaftan dient lediglich als Strohmann für rechtsradikale Machenschaften. Mehring und Piscator wollten so die antisemitische Propaganda gegen die „Geldjuden“ als politisches  Täuschungsmanöver entlarven. Das war 1929 ein hellsichtiges und politisch bedeutsames Vorhaben, denn vier Jahre später übernahmen die Antisemiten tatsächlich die Macht im Staat.

Und heute? Als Castorf den ebenfalls 1929 erschienen Roman „Berlin Alexanderplatz“ adaptierte, hat er mit seinem Bühnenbildner Bert Neumann das Geschehen in unsere Gegenwart verlegt. „Der Kaufmann von Berlin“ spielt in historischen Fummeln und Uniformen. Die vierstündige Collage zitiert einerseits den Berlinmythos der wilden Zwanziger, andererseits mit Dauergebrüll den hauseigenen Mythos von der Volksbühne als Hort des kreativen Chaos. Aber Berlin tickt heute anders und das Chaos an diesem Theater ist schon lange nicht mehr kreativ. Da entsteht nichts, was wirklich witzig, erhellend, erfrischend wäre. So macht sich die Volksbühne überflüssig: Kulturelle Nostalgieveranstaltungen gibt es in der Hauptstadt schon mehr als genug.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 22. November 2010

Zum Spielplan: www.volksbuehne-berlin.de

www.deutschestheater.de

© Text und Foto: Michael Bienert
















 










Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro







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