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KULTURMENSCHEN I VOLKER LUDWIG Mit Grips zum Weltruhm von Michael Bienert Auf der ganzen Welt werden seine Stücke gespielt, aber in der deutschen Hauptstadt kämpft sein Grips-Theater täglich aufs Neue um die Existenz. Am 29. November 2008 wird Volker Ludwig in Stuttgart für sein Lebenswerk geehrt. Wieso gibt es eigentlich keinen Nobelpreis für Kinder- und Jugendliteratur? Die Texte, mit denen unsere Kinder aufwachsen, sind doch viel wichtiger als die Lektüre der Erwachsenen. Gäbe es so einen Preis, Volker Ludwig hätte ihn längst bekommen müssen. Seit fast vierzig Jahren schreibt er Theaterstücke für Kinder und Jugendliche, in denen sie ihre Alltagsnöte wiedererkennen, um ihnen Mut zu machen. Mit unglaublichem Erfolg: Seine Stücke für das 1969 von ihm mitgegründete Grips-Theater wurden bisher rund 1800 Mal in 47 Ländern der Erde nachinszeniert. Nächsten Monat ist Volker Ludwig nach Seoul eingeladen, anlässlich der 4000. Vorstellung seines Berlin-Musicals „Linie 1“ in einer koreanischen Adaption. Soviel weltweite Zuneigung widerfährt keinem anderen lebenden deutschen Dramatiker. Volker Ludwig trägt seinen Ruhm nicht vor sich her. Er ist ein sanfter Mensch, ein freundlicher Altachtundsechziger mit grauer Mähne und gestutztem Weißbart. So einen Opa möchte man haben, weil er mit seinen 71 Jahren so ganz und gar kein oller Opa ist. Andere prominente Altlinke haben sich längst auf ihre Güter in der Toskana zurückgezogen. Volker Ludwig leitet weiter das Grips-Theater am Berliner Hansaplatz. Dass die tägliche Arbeit nicht nur die reine Freude ist, sondern ihn auch belastet, spürt man, wenn er seine Aufmerksamkeit nicht auf sein Gegenüber fokussiert. Dann ist eine gewisse Ermüdung nicht zu übersehen. Sie wird allzu begreiflich, wenn Volker Ludwig über die täglichen Mühen spricht, sein weltberühmtes Theater am Leben zu halten. Dazu ist er auf das Wohlwollen von Bildungspolitikern und Pädagogen angewiesen, denn von alleine finden Kinder nicht ins Theater. Seit Jahrzehnten fordert Ludwig die Berliner Schulpolitiker auf, den Besuch einer Theaterinszenierung in die Rahmenpläne für den Unterricht aufzunehmen, möglichst schon für Grundschüler und wenigstens einmal im Jahr. Das sei Eltern und Lehrern nicht zuzumuten, bekommt der Theatermacher jedesmal von den mächtigen Bildungsexperten aus der Schulverwaltung zu hören. Abgesehen vom drohenden Unterrichtsausfall belaste der Theaterbesuch besonders arme Familien mit zusätzlichen Ausgaben. Und es mache doch überhaupt keinen Sinn, die Schüler ins Theater zu zwingen. Solche Argumente bringen Volker Ludwig in Rage. Es widerspricht seinem demokratischen Urinstinkt, dass es vom Zufall abhängen soll, ob Kinder und Jugendliche das Theater früh als etwas Aufregendes erleben. Die eine Hälfte hat Lehrer oder Eltern, die ihnen dieses Bildungserlebnis ermöglichen. Die andere Hälfte sieht nie ein Theater von innen. In Ländern wie Schweden ist der Theaterbesuch schon in der Vorschule eine Selbstverständlichkeit. Die Zehn- oder Zwölfjährigen dort seien schon ein hoch gebildetes Theaterpublikum, erzählt Ludwig. Schwedische Stücke für diese Altersgruppe seien so komplex, dass es schwierig sei, sie in Deutschland aufzuführen. In seinen Augen ist die Bundesrepublik in puncto Theaterbildung für den Nachwuchs immer noch Entwicklungsland - obwohl sich das Kinder- und Jugendtheater als eigenständige Sparte an vielen Bühnen etabliert hat. Das Grips-Theater spielte dabei vielfach die Rolle des Anregers und Vorbildes. In den Sechzigern gab es in der Bundesrepublik außer Weihnachtsmärchen kaum Kindertheater. Volker Ludwig schrieb Texte und Songs für das linke „Reichskabarett“ in Westberlin. „Wir hatten keine Ahnung von Kindern“, erinnert er sich, „wir haben das zunächst aus politischen Gründen gemacht, um an ein proletarisches Publikum heranzukommen. Das ging nur über Schulklassen. Und dann haben wir dieses Publikum lieben gelernt und die Kinder uns.“ Stücke für ein realistisches Kindertheater, das auf unterhaltsame Weise die Alltagsprobleme der Kinder verhandelte, gab es in Deutschland nicht. Dass Volker Ludwig und seine Mitstreiter von Kabarett herkamen, war ein Glück. Die satirische Zuspitzung, die flotten Songs, das Aufgreifen aktueller Themen sind bis heute Markenzeichen des Grips-Theaters geblieben. Die Anregungen kamen anfangs von den Kinder selbst, inzwischen verfügt das Theater über ein riesiges Netzwerk von Informanten: im täglichen Kontakt mit Lehrern, Erziehern, Sozialarbeitern, Psychologen und Polizisten kristallisiert sich heraus, mit welchen Schwierigkeiten Kinder und Jugendliche im Alltag kämpfen. Auf dem aktuellen Spielplan stehen Stücke über Fernsehsucht („Flimmer-Billy“) und Klimakatastrophe („Prima Klima“), Mobbing („Wehr dich, Mathilda!“) und die Schwierigkeiten von Jugendlichen, die sich zwischen verschiedenen Kulturen zurecht finden müssen („Haram“). Rund 450 Vorstellungen spielt das Grips-Theater pro Jahr, im letzten Jahr erreichte es rund 100.000 Zuschauer, mit 90% Prozent Auslastung stand es besser da als die meisten anderen Berliner Bühnen. Am Ende vieler Vorstellungen in der Arena am Hansaplatz wird nicht brav geklatscht, sondern getrampelt und gejohlt. Der Klassiker „Linie 1“, Ludwigs furioses Musical über das eingemauerte West-Berlin, ist regelmäßig ausverkauft. Nach über 1300 Vorstellungen, 22 Jahre nach der Uraufführung, hat es eine historische Patina, aber kaum Staub angesetzt. Mit seinen kessen Sprüchen und druckvollen Rocksongs reißt es die Jugendlichen immer noch mit. Die Schauspieler Thomas Ahrens, Dietrich Lehmann und Christian Veit waren schon bei der Uraufführung dabei, es ist anrührend, wie frech und frisch sie zwischen den jüngeren Kollegen wirken und spontanen Szenenapplaus von der Enkelgeneration bekommen. Jugendliche sind fasziniert von der renitenten Figur des 80-jährigen Hermann, der sich von seinen körperlichen Gebrechen nicht unterkriegen lässt: „Die Treppen bezwungen! / Dem Sozialamt getrotzt / Und dem Klassenfeind noch einmal / In die Fresse gerotzt!“ . Viele Bühnenkünstler träumen ein Leben lang von einem Theater, das sein Publikum derart bewegt. Das der Gegenwart den Puls fühlt, sich ständig erneuert und dennoch treu bleibt. Warum klappt das am Grips-Theater, warum so selten an anderen Bühnen, und wenn schon mal, dann immer nur für kurze Zeit? „Weil wir wissen, warum wir Theater machen“, sagt Volker Ludwig. „Wir sind für unser Publikum da. Wir spiegeln seine Probleme, und da die Leute immer neue Probleme haben, kann dieses Theater nicht altern.“ Vielleicht nimmt wirklich kein anderes deutsches Theater sein Publikum derart ernst wie die Grips-Leute um Volker Ludwig. „Ästhetik ist dazu da, das was wir erzählen wollen, auf die beste Art und Weise zu erzählen. Wir wollen unterhaltsam sein, uns verständlich machen, informieren - aber so, dass man den Zeigefinger nicht sieht.“ Mit dieser aufklärerischen Haltung ist es Volker Ludwig gelungen, den linken Traum von einem politisch wachen Volkstheater in Deutschland erfolgreich zu institutionalisieren. Das Grips-Theater ist ja weit mehr als ein Kinder- und Jugendtheater. Es ist eher ein Modell dafür, wie verschiedene Generationen - hinter der Bühne, auf der Bühne und im Zuschauerraum - im Theater voneinander lernen. Volker Ludwig ist ein Teamarbeiter, an seinen Stücken haben viele mitgearbeitet, sie wurden immer erst wenige Tage vor der Uraufführung fertig. Soweit das in einem Theater möglich ist, setzt er auf Transparenz und Demokratie. Es gibt immer noch ein Mitarbeitergremium, das über Spielplan, Projekte, Einstellungen und Kündigungen berät, auch mal Stücke des Chefs ablehnt. Jeder im Haus weiß, was der andere verdient. Umso größer ist die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Grips-Theater. „Was ich mache, macht kein anderer Intendant“, sagt Volker Ludwig. Er hat bereits versucht, einen passenden Nachfolger zu finden, es war schwer. Die wenigen, das Grips-Theater von innen kennen und in Frage kämen, arbeiten anderswo, sie müssten jetzt kündigen, um in 2 oder 3 Jahren das Ruder zu übernehmen. „Und dann gehts mir vielleicht gerade sehr gut und ich habe gar keine Lust aufzuhören. Freunde haben mir deshalb geraten, einfach weiterzumachen, solang es geht.“ Sollte ihm etwas zustoßen, stünden die drei wichtigsten Regisseure des Hauses bereit, gemeinsam die künstlerische Verantwortung zu übernehmen. Volker Ludwig weiß aus Erfahrung, wie unberechenbar die Berliner Kulturpolitik ist. Solange er der Chef ist, kann er mit seinem internationalen Ansehen das Grips-Theater schützen. Es ist ein Privattheater, das von Zuschüssen der Stadt abhängt. Sie sind seit fünf Jahren nicht erhöht worden, bei steigenden Ausgaben für den Betrieb. Sinkt die Platzauslastung unter 90 Prozent, arbeitet das Theater mit Verlust. Allein durch einen Verkehrsstreik im Frühjahr nahm das Grips-Theater 30.000 Euro weniger ein. Vor zwei Jahren gab es schon mal einen Einbruch bei den Besuchern, ausgelöst durch den PISA-Schock: In den Klassen wurde mehr Mathe gepaukt, die Lehrer nahmen sich weniger Zeit für Unterricht außerhalb der Schule. Auch dass der Lernstoff bis zum Abitur nun in 12 statt in 13 Jahren bewältigt werden soll, macht sich ungünstig bemerkbar. In manchen Monaten lohne es sich kaum noch, Vorstellungen anzusetzen, weil überall Klassenarbeiten geschrieben würden, klagt Volker Ludwig. Er selbst hat zwei Söhne, der jüngere geht noch in die Schule. Auf dem Stundenplan stehen 36 Wochenstunden. Im nächsten Jahr plant das Grips-Theater ein neues Stück über Leistungsdruck bei Jugendlichen. „Stolz bin ich, dass es dieses Theater bald 40 Jahre gibt und dass es sein Niveau gehalten hat“, sagt der Chef. Er will nicht, dass ein Museum daraus wird, deshalb hat er sich riesig gefreut, als im vergangenen Jahr die Grips-Produktion „Cengiz & Locke“ mit dem „Faust“-Theaterpreis für die beste Jugendtheaterinszenierung ausgezeichnet wurde. Nächsten Samstag kommt Volker Ludwig nach Stuttgart, um einen „Faust“ für sein Lebenswerk entgegen zu nehmen. Er sieht dem Termin mit gemischten Gefühlen entgegen: „Ich werde mit meinem Lebenswerk doch gar nicht fertig.“ ERSTDRUCK: STUTTGARTER ZEITUNG VOM 22. NOVEMBER 2008 © Text und Bild: Michael Bienert ■ Zum aktuellen Spielplan des Grips-Theater >>> |
Michael Bienert Mit Brecht durch Berlin Insel Verlag it 2169 272 Seiten Mit zahlreichen Abbildungen ISBN 3-456-33869-1 10 Euro |
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