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THEATERKRITIK


Lulu - Die Nuttenrepublik nach Frank Wedekind mit Texten von Berliner Sexarbeiterinnen. Premiere an der Schaubühne am 11. Dezember 2010. Regie: Volker Lösch. Mit Laura Tratnik, Sebastian Nakajew u. a.


Nieder mit der Nuttenrepublik!

von Michael Bienert

Nun also die Sexarbeiterinnen. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, wann Volker Lösch und sein Team auf ihren Streifzügen durch die sozialen Milieus auf dem Strich, in den Bordellen und Massagesalons fündig werden würden. Das ging etwas schneller als geplant, weil es nicht möglich war, genügend Freiwillige aus der Finanzwirtschaft für eine vorweihnachtliche Aufführung von Georg Kaisers „Von morgens bis mitternachts“ zu rekrutieren. Statt dessen nun ein Verschnitt von Wedekinds „Lulu“-Tragödie mit „Texten von Berliner Sexarbeiterinnen“, die aus Interviews komponiert wurden. „Muschis aller Länder, vereinigt Euch!“ skandiert der furiose Prostituiertenchor ganz zum Schluss ins amüsierte Publikum: „Steht auf für ein befriedigtes Deutschland, für ein befriedigtes Europa, für eine befriedigte Welt!“

Käuflicher Sex, das ist ein Schmuddelthema und gerade deshalb seit jeher ein Faszinosum für die bürgerliche Gesellschaft. Damit die Hure als Projektionsfläche funktioniert, schauen die Freier lieber nicht so genau hin. An der Schaubühne drehen Lösch & Co. den Spieß um. Der Theaterabend gehört den 15 Frauen aus dem Rotlichtmilieu, die uns Gaffern erzählen, was sie von ihren Kunden und dem Rest der Gesellschaft erwarten. Nämlich genau das, was sich im Grunde alle wünschen: als vollwertige Menschen respektiert zu werden, keine Erniedrigung erdulden zu müssen, nicht geächtet zu sein.


Die Schaubühne geht mit gutem Beispiel voran, indem sie den voyeuristischen Blick auf die Laiendarstellerinnen konsequent unterdrückt. In langen Kleidern mit aufgestickten Geschlechtsmerkmalen (von Cary Gayler) treten sie durch  blütenweißen Wand aus über tausend Federbetten, kunstvoll aufgehängt an der Saaldecke (von Carola Reuther). Was schmuddelig wirken könnte, bleibt dahinter oder wird auf dem schmalen Laufsteg vor der flauschigen Kulisse  augenblicklich der Lächerlichkeit preisgegeben.

Die junge Schauspielerin Laura Tratnik, zu Beginn noch ein ununterscheidbares Mitglied des Laienchors, tanzt als Lulu für und mit ihren wechselnden Männern, ohne sich entblößen zu müssen. Sie bringt auch so genügend erotische Ausstrahlung ins Spiel und  verwandelt sich von einem naiven Hüpfer, der älteren Männern den Kopf verdreht, langsam in einen routinierten, müden Sexprofi. Was sollte auch sonst aus ihr werden in dieser Männerwelt? Lulu sucht Nähe, wird aber immer nur Phantasiegebilde und Lustobjekt wahrgenommen. Felix Römer, David Ruland und Nico Selbach teilen sich die stark typisierten Männerrollen mit Sebastian Nakajew, der auch mal als Dirty Dancer die Sau rauslassen darf, sehr zum Vergnügen der Frauen vom Fach.

 
Mit Lulus Schicksal verdüstern sich die Chorberichte aus der Sexwirtschaft, wir hören von sexuellem Missbrauch in der Kindheit, Gewalterfahrungen, Drogen, Angst und Elend auf dem Straßenstrich. Die Idee, verschiedene Stufen der Prostitution – absteigend von der bürgerlichen Ehe bis zum Straßengeschäft – in Lulus Biografie mit authentischen Erfahrungsberichten zu synchronisieren, geht gut auf. Gewiss lotet die flotte Inszenierung nicht alle Abgründe in Wedekinds Drama aus, präsentiert aber eine originelle und schlüssige Lesart.

Mit dem tragischen Schluss tut Lösch sich naturgemäß schwer. Die männlichen Schauspieler als vierköpfiger Jack the Ripper schleppen nacheinander alle Frauen hinter den Kissenvorhang, um ihnen die Geschlechtsteile auszuschneiden und diese dem Publikum als medizinisches Präparat in Alkohol zu präsentieren. Iggitigitt, dabei darf es nicht bleiben, geschickt nimmt Lösch noch mal die Kurve vom Betroffenheits- zum herzerwärmenden Aufklärungstheater, indem er dem Frauenchor das letzte Wort erteilt: „Die guten Liebhaber sollen mit Geschenken belohnt, die schlechten Liebhaber in einer Sexwork-Akademie geschult werden.“ Nieder mit der verlogenen Nuttenrepublik! Als moralische Anstalt hat die Schaubühne an diesem Abend glänzend funktioniert.


Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 13. Dezember 2010

Zum Spielplan: www.schaubuehne.de


© Foto und Text: Michael Bienert







Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro







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