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Foto: Elke Linda Buchholz
RUSSEN UND DEUTSCHE IM NEUEN MUSEUM Zar Nikolaus fuhr Mercedes Eine deutsch-russische Ausstellung auf der Suche nach Gemeinsamkeiten Von Elke Linda Buchholz Wie gerade erst abgeladen stehen Holzkisten mit Wachsblöcken, tönernen Spinnwirteln und Schwertern im Neuen Museum: Handelsgüter, mit denen Kauffahrer vor 1000 Jahren miteinander ins Geschäft kamen. Bier, Salz und Heringe transportierten sie in Fässern, auf deren Deckel sie ihre Marken ritzten. Auf einem vier Meter breiten Kirchengestühl ließen Rigafahrer der Hansestadt Stralsund um 1360 ihre Handelspartner verewigen. Da flitzen Eichhörnchen durch die Baumwipfel, werden von Jägern mit Pfeil und Bogen zur Strecke gebracht und schließlich als Handelsware einem westlich gekleideten Pelzhändler übergeben. Der Schnitzkünstler schildert die Russen nicht als wilde Barbaren, wie es Jahrhunderte später viele Reisende taten. Die geschickten Jäger wirken gepflegt mit ihren exotisch geflochtenen Bärten und hohen Mützen. Empfangen wird der Besucher der Ausstellung „Russen und Deutsche“ von einem dem Kirchengestühl nachgebildeten Wald. Geschichte ist ein Dickicht. Wie schlägt man Schneisen hinein? Unter der Schirmherrschaft ihrer Staatsoberhäupter haben sich russische und deutsche Historiker auf 600 Exponate aus tausend Jahren verständigt. Nachdem sie zuerst in Moskau gezeigt wurden, ist eine völlig neue deutsche Ausstellungsversion nun auf der Museumsinsel zu sehen. Streng chronologisch geht es um "die Verflechtungen der beiden Völker" in einem "überwiegend friedlichen Neben- und Miteinander", so Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Eine große Kostbarkeit ist gleich das erste Exponat: Im Egbert-Psalter aus der Reichenauer Malerschule tritt Fürst Jaropolk von Kiew 1073 zusammen mit Kunigunde von Weimar vor den thronenden Christus. Eine russisch-deutsche Fürstenheirat, lange bevor die beiden Staaten entstanden. Wie eine Schatzkammer präsentiert ein Raum den Prunk diplomatischer Geschenke, die seit dem 16. Jahrhundert dazu dienten, Bündnisse gegen Mongolen und Osmanen zu sondieren. Der Technologietransfer ging hauptsächlich von West nach Ost. Mit deutschem Knowhow entstand 1564 die erste Buchdruckerpresse in Moskau. Der Nürnberger Metallgießer Hans Falk nannte sich in Moskau Iwan, fertigte Kanonen und Kirchenglocken. Energisch stößt Zar Peter I. um 1700 das "Fenster nach Europa" auf und verordnete seinem Riesenland eine Radikalmodernisierung. Auf einem kolorierten Druck schneidet er eigenhändig einem Russen den langen Bart ab. Seine Residenzstadt Sankt Petersburg planen westliche Architekten als Vorzeigemetropole. An der Akademie spricht man deutsch. Dort lehrt der Württemberger Mathematiker Georg Bernhard Bilfinger, der Tübinger Chemiker Johann Georg Gmelin bricht nach Kamtschatka auf, um die Weiten des Landes zu vermessen. Getrocknete Pflanzen, Fischhäute und ethnografische Artefakte wandern als Ausbeute in die Zarenkunstkammer. Ein Riesenschädel blieb von der 10 Tonnen schweren Stellerschen Seekuh, die 1741 erstmals wissenschaftlich beschrieben, zwei Jahrzehnte später ausgestorben war. Mit Katharina der Großen übernimmt 1762 eine Prinzessin aus Anhalt-Zerbst den Zarenthron. Neben ihrem Prunkporträt sind Kostproben ihres Kunsthungers aus der Eremitage angereist, Gemälde von Veronese, Watteau, und Pesne: "Dies alles wird nur von den Mäusen und mir geliebt." In einer Enfilade von Ehegattenporträts lächeln die häufig glücklosen Paare, die ein dynastisches Netz zwischen deutschen und russischen Adelshäusern knüpften. Das kleinste Exponat ist ein Diamant, den Alexander von Humboldt von der Zarin als Geschenk erhielt. Er hatte nach einer Uralreise dazu geraten, in Sibirien nach Diamanten zu graben. Der 14jährige Leibeigene, der die ersten glitzernden Körnchen schürfte, erkaufte sich damit die Freiheit. Erst 1861 wurde die Leibeigenschaft in Russland abgeschafft. Ob Russen am Roulettetisch in Baden-Baden oder deutsche Firmendependancen von BASF und Daimler in Moskau: Nie sind sich beide Länder so nah wie im 19. Jahrhundert. Nikolaus II., der letzte russische Zar, lässt sich am Steuer seines Mercedes fotografieren. Die Maler Kandinsky und Franz Marc kreieren den "Blauen Reiter" als Boten der Avantgarde. Dann stößt ein metallischer Keil quer durch den Ausstellungsraum. Der Erste Weltkrieg kappt die produktiven Verbindungen. Mit nüchterner Schreibmaschinenschrift markieren der Rapallo-Vertrag 1922 und das Geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts 1939 den Weg in den Zweiten Weltkrieg, wie im Zeitraffer. Statt Waffen und Fotos des Vernichtungskriegs auszubreiten, haben die Kuratoren die Auseinandersetzung damit der Kunst überantwortet: Zu den Klängen von Schostakowitschs Leningrader Symphonie, die er 1942 in der von Deutschen belagerten Stadt komponierte, sieht man sich von wandfüllenden Landschaftsfotografien umgeben. Menschenleere Weite. Eisschollen. Matsch. Der aus Baden-Württemberg stammende Fotograf Volker Kreidler hat die Kriegsschauplätze 2011/12 aufgesucht. Manche Besucher verweilen lange, für andere ist der abgedunkelte Erinnerungsraum nur eine Passage. Das Schweigen der Ausstellung zu Stalins "Großen Vaterländischen Krieg" zeigt auch die Unmöglichkeit, eine gemeinsame Sicht der Ereignisse zu formulieren. Als vielstimmige Collage von Interviews, Fotostrecken und Filmausschnitten fängt das letzte Kapitel der Ausstellung die Nachkriegszeit bis zur Gegenwart ein. Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Überlebende beider Seiten kommen zu Wort. Vom Alltag der Gegenwart plaudern deutsche Manager und Medienleute in Russland. Fast folkloristisch wirken die bunten Fotos von Russen in Berlin, die in der Sauna schwitzen und ihre Plattenbauwohnungen mit Blümchen dekorieren. No politics! Menschenrechtsverletzungen, Medienzensur, Korruption im Putin-Staat bleiben ausgespart. Als Kunstfreund hat Putin seinen Auftritt, an der Seite von Kanzler Schröder im 2003 wiedererstandenen Bernsteinzimmer in Zarskoje Selo. Das legendäre Prunkzimmer war vom preußischen König 1716 als Geschenk nach Russland gesandt und 1941 von deutschen Besatzern abtransportiert worden. Auch das Schicksal zahlloser von Russen verschleppter Kunstgegenstände war jahrzehntelang ungewiss. Jetzt verkünden die Beschriftungstäfelchen neben den nur in Fotos gezeigten Armreifen, Bronzebeilen und Goldgefäßen: "Seit 1945 als Beutekunst im Puschkin-Museum Moskau". Die wohlkalkulierte Pointe der Ausstellung ist diplomatisch dezent, aber mit Nachdruck gesetzt: Sie findet im Museum für Vor- und Frühgeschichte statt, das seit der sowjetischen Besatzungszeit zehntausend Objekte vermisst. Die lange in Geheimdepots gelagerten Funde werden 2013 erstmals nach 70 Jahren in einer gemeinsam von russischen und deutschen Wissenschaftlern erarbeiteten Ausstellung zur Bronzezeit öffentlich zu sehen sein. In Moskau und St. Petersburg. Nicht in Berlin. AUSSTELLUNG Geöffnet ist die Schau im obersten Stockwerk des Neuen Museums bis 13. Januar 2013 täglich von 10-18 Uhr, Do bis 20 Uhr. KATALOG Der zur Ausstellung erschienene Essayband (mit 65 Autoren) und der Katalog (mit sämtlichen Exponaten) sind zusammen 940 Seiten stark und mehrere Kilo schwer, aber auch getrennt erhältlich (Michael Imhof Verlag). ZUR AUSSTELLUNGSWEBSITE ERSTDRUCK: Stuttgarter Zeitung vom 18. September 2012 © Fotos: Elke Linda Buchholz |
AKTUELLER, FARBIGER, UMFANGREICHER Die 4. Auflage von Die Zwanziger Jahre in Berlin hat es in sich! Von Michael Bienert und Elke Linda Buchholz im Berlin Story Verlag, 312 Seiten, 19,80 Euro MEHR >>> |
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