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KUNSTMUSEUM WOLSBURG I FOTOGRAFIE

So gesehen ist auch eine Kartoffel Kunst

Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt Fotografie des Neuen Sehens der Zwanziger Jahre

Von Elke Linda Buchholz

Real – surreal – völlig egal?! Das Wolfsburger Kunstmuseum zeigt Fotografie des Neuen Sehens der 20er und 30er Jahre, die damals Avantgarde war und heute Klassikerstatus hat. Fast alles, was Rang und Namen hat aus der damaligen Fotoszene, ist in der Ausstellung vertreten: Albert Renger-Patzsch, Yva, Herbert List, Aenne Biermann, Herbert Bayer, Grete Stern, Alfred Ehrhardt, Dora Maar, Man Ray, André Kertesz, Karel Teige und viele mehr. Zudem hat der Münchener Sammler Dietmar Siegert allerlei unbekanntere Fotografen aus seinen Mappen und Schränken mitgebracht, und sie zu entdecken macht besonderes Vergnügen. Der ehemalige Filmproduzent, der einst rum die Welt Dokumentarfilme realisierte, begann sich schon früh für die Fotokunst zu begeistern. So konnte er von erschwinglichen Preisen auf dem Markt profitieren, bevor die Schätzwerte in die Höhe schossen. Vor allem die ganz frühen Aufnahmen der Fotopioniere aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten es ihm angetan, wie Siegert zur Ausstellungseröffnung erzählt. Seine raren Schätze zur deutschen Lichtbildkunst bis 1890 hat er vor kurzem in die Obhut des Münchener Stadtmuseum gegeben. Für die Italienmotive interessierte sich dann auf einmal sogar die Neue Pinakothek. In deren Ausstellungssälen dürfen die historischen Aufnahmen italienischer Hotspots künftig kongenial die gemalten Ansichten aus dem Land, wo die Zitronen blühen, ergänzen.

Dass Siegert eher nebenbei vor einigen Jahrzehnten begann, auch Fotokunst der Zwanziger Jahre zu sammeln, wird erst jetzt öffentlich sichtbar. Nur Einzelstücke hat der Sammler bislang, etwa in der Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg, als Leihgaben gezeigt. Wie umfangreich und facettenreich er den Sammlungsbereich des "Neuen Sehens" arrondierte, zeigt jetzt die Wolfsburger Schau (bis zum 6. April 2015). Und damit stellt sich zugleich die Frage: In welchem Museum wird dieser hochkarätige Bestand wohl einmal seine Bleibe finden? Denn museale Qualitäten hat das Konvolut, von dem jetzt eine Auswahl ans Licht kommt. 

Landschaften, Porträts, eine paar Heizungsrohre, zwei Straßenmusikanten, eine Tasse, ein Pilz. Die Sujets sind oft alltäglich. Die Art, sie zu sehen, ist es nicht. Der Pilz, in extremer Nahsicht von unten gesehen, erscheint plötzlich wie ein Industrieprodukt, ein Landschaft wird zur Struktur, ein Paar Frauenbeine zum magischen Objekt. Ist es nicht fast unheimlich, wie eine Kartoffel mit ihren bleichen Triebe in den Raum ausgreift? Brassai hat die verschrumpelte Erdfrucht als Einzelstück porträtiert, frei schwebend wie ein Ufo. Was die Fotografen des Neuen Sehens so faszinierte und dazu trieb, gewöhnliche Dinge auf ungewohnte Weise abzulichten, fasste die Fotografin Aenne Biermann in Worte: "Das einzelne Objekt, das innerhalb einer ureigenen Umgebung niemals aus dem Kreis der trauten Erscheinungen herausfiel, gewann auf der Mattscheibe ureigenes Leben."

So schwelgen die Fotografen in Schrägsichten, Ausschnitten, Verzerrungen, Überschneidungen. Andere setzen auf scheinbare Kunstlosigkeit, wollen eiskalt und nüchtern nur dokumentieren, was halt da ist. Karl Theodor Gremmler fotografiert "Zigeunerporträts", frei von falscher Romantik, beeindruckend in ihrer Würde und Individualität. Der Bauhäusler Umbo knipst sich selbst mit Sonnenbrille am Strand liegend: ein Selfie avant la lettre. Er liebt es auch, wenn sich, in steiler Draufsicht von oben irgendwo aus dem Fenster gesehen, unten auf dem Trottoir die Schatten der Passanten verlängern und ein Eigenleben entfalten. Ist das noch neusachlich oder schon surreal? Manchmal sind die Grenzen fließend. Und genau das will Björn Kurator Egging zeigen. Seiner Ansicht nach hängt es doch nur vom Kontext ab, ob eine Aufnahme nüchtern sachlich oder schon surreal verfremdend wirke. Er verweist dazu auf eine der berühmten Pflanzendetailaufnahmen von Karl Blossfeldt, die auch in einer Surrealistenzeitschrift abgedruckt wurde. Eine etwas magere Beweisbasis. Und der Sammler Siegert widerspricht vehement. Für ihn sind Neue Sachlichkeit und Surrealismus zwei getrennte Paar Schuhe. À propos Schuhe: eine der hübschesten und lapidarsten Aufnahmen stammt von Friedrich Seidenstücker um 1932. Darauf zu sehen ist nichts als eine blühende Wiese und, im Vordergrund angeschnitten, eine Thermoskanne und die beschuhten Beine eines picknickenden Paares, irgendwo in Berlin.

In drei geografischen Zentren gruppiert die Ausstellung ihre rund 200 Meisterwerke. Den Anfang machen die deutschen Fotografen als größte Gruppe. Dann geht es in einer slalomartigen Abfolge von Kabinetten weiter nach Paris, um schließlich, ein wenig wie im Wurmfortsatz einer sich unendlich fortschreibenden Bildergeschichte, in Prag zu enden. Diese drei Orte so säuberlich zu trennen macht wenig Sinn und tut den tschechischen Fotografen Unrecht. Damals waren die Zentren der europäischen Avantgarde aufs beste miteinander vernetzt. Dass sie ganz ähnliche Bildstrategien nutzten und ähnliche Motive liebten, zeigt die Ausstellung selbst ja deutlich genug. Erst der zweite Weltkrieg ließ den Eisernen Vorhang herunterrasseln und katapultierte die Prager Szene aus dem westeuropäischen Kulturgedächtnis heraus. So erlebt man Künstler wie Josef Sudek, Peter Stauda, Emila Medkovà, František Hudeček oder den auch als Maler bedeutenden Surrealisten Karel Teige jetzt als Neuentdeckung. 

So rasant und bahnbrechend die ungewohnten Perspektiven, Bildausschnitte und Motivkombinationen in den 20er und 30er Jahren wirkten, völlig neu waren sie nicht. Das macht gleich zu Beginn der Ausstellung eine Auswahl von älteren Inkunabeln der Fotokunst deutlich. Hier beweist der Sammler Siegert besonders Kennerauge und Entdeckerspürnase: etwa bei dem Fotogramm eines Stückchens Spitze – nicht von Laszlo Moholoy-Nagy am Bauhaus, sondern fast ein Jahrhundert zuvor auf die lichtempfindliche Platte gebannt. Wie ein Sozialporträt von August Sander mutet Nadars Aufnahme eines Arbeiters in der Pariser Kanalisation um 1864 an. Selbst das Medium der Fotocollage, mit eindeutig surreal-morbidem Einschlag, gab es bereits um 1870. Verblüfft steht man vor der anonym zusammengeklebten Bildgeschichte eines bizarren Enthauptungsklamauks im häuslichen Ambiente. Und natürlich: die Kartoffel! Der deutsche Kaiserzeit-Fotograf August Kotzsch, damals international anerkannt, heute vergessen, legte drei erdige Knollen auf einen weißen Teller, rückte sie nah ans Objektiv und drückte – um 1870 – auf den Auslöser. So schlicht und schön, so nüchtern und objektverliebt, wie es auch die großen Fotografen des Neuen Sehens der Zwanziger Jahre taten.

Kunstmuseum Wolfsburg
RealSurreal. Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie. Sammlung Siegert. Bis 6. April 2015. Di – So 11 –18 Uhr
Katalog im Museumsshop 28 Euro, 256 Seite, alle Werke abgebildet


Weitere Informationen













 





   
Michael Bienert
Kästners Berlin
Literarische Schauplätze
160 Seiten, ca. 200 Abb.
Verlag für Berlin und Brandenburg
Berlin 2014, 24,99€
Mehr Informationen




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