Startseite

LITERARISCHES LEBEN

Die Frauen von Friedenau

Seit der Kaiserzeit schätzen Schriftsteller den Stadtteil im Berliner Südwesten als Wohnquartier. Dass die Tradition lebendig bleibt, dafür sorgen heutzutage vor allem literaturbegeisterte Frauen.

I. DER MARKT

Die Händler vom Friedenauer Wochenmarkt staunten nicht schlecht, als sie ihre Stammkundin auf den Titelseiten am Kiosk wiedererkannten. Bis zur Verleihung des Literaturnobelpreises im vergangenen Jahr konnte Herta Müller in ihrer Wohngegend nahezu inkognito einkaufen gehen. Damit ist es jetzt vorbei. Aber die Aufregung im Viertel hat sich rasch gelegt, denn in Friedenau ist es überhaupt nichts Ungewöhnliches, im Supermarkt mit berühmten Schriftstellern in der Schlange zu stehen.

Ein paar Schritte vom Wochenmarkt, in der Niedstraße 13, kaufte Günter Grass 1963 eine verwinkelte Villa mit Dachatelier und großem Garten. Heute ist er dort noch manchmal zu Besuch, wenn er seine Enkel sehen will. Den Tipp bekam Grass von Uwe Johnson, der sich unterm Dach des Nachbarhauses eine Schreibstube eingerichtet hatte, im ehemaligen Atelier des „Brücke“-Künstlers Karl Schmitt-Rottluff. An beide erinnert heute eine Gedenktafel. Nebenan plante Grass seine Wahlkampfreisen für die SPD, schrieb etliche Bücher und verwöhnte seine Freunde mit Selbstgekochtem: „Wenn wir am Sonnabend auf unseren Friedenauer Wochenmarkt gehen, dann kaufen wir Dill und Gurken, Havelaal und Heilbutt, Birnen und Pfifferlinge, Hasenläufe und Vierländer Mastenten wo wir wollen und lustig sind.“

Hans Magnus Enzensberger und Rudi Dutschke wohnten in den Sechzigern um die Ecke, „fremd und verletzt kam, immer wie auf der Flucht, Ingeborg Bachmann kurz auf Besuch vorbei“, erinnert sich Grass. Max Frisch, Nicolas Born, Ernst Jandl und viele andere lebten in der Gegend. Die literarisch-künstlerische Tradition Friedenaus reicht noch weiter zurück, bis in die Kaiserzeit, als die neue Vorstadt im Südwesten Berlins Äcker und Wiesen verdrängte. „In Friedenau gibt´s doch das meiste Federvieh“, stellte schon um 1900 ein Lokalpoet fest. Rosa Luxemburg fühlte sich genauso wohl wie der Romancier Georg Hermann. Zwischen den Weltkriegen wohnten Kurt Tucholsky und Theodor Heuss in Friedenau. Seine Frau Elly schrieb 1919 aus der Fregestraße 80, damals mit Blick auf Rathaus und Markt: „Ich lebe so still und häuslich, genieße das grüngoldene Sonnenlicht, das die hohen Bäume vor unseren Fenstern schenken, und merke nichts von Berlin.“ Das macht das Viertel für Schreibende unverändert anziehend: Man ist mitten in Berlin und fühlt sich doch meist wie in einer Kleinstadt oder auf dem Dorf. „Allein die Magnolien in den Vorgärten, bald gefolgt von den Tulpen, dem Flieder, den Pfingstenrosen, den weißen und roten Kastanien, Blütenteppiche auf dem Pflaster... Man könnte hier Tage spazierend genießen, gewiss, wollte man nicht ständig südwärts an den Schreibtisch oder nordwärts die Kinder abholen“, schwärmt Julia Franck auf literaturport.de, dem Berlin-Brandenburgischen Literaturportal im Internet. Sie zog vor vier Jahren aus Rom nach Friedenau. Die buntscheckige literarische Szene erneuert sich ständig, ist daher allemal für Überraschungen gut wie den Nobelpreis für die in Rumänien geborene Herta Müller, die in der Menzelstraße lebt.

II. DAS HOTEL

Christa Moog muss gleich wieder zurück in die Küche. Die Chefin sollte gar nicht im Hause sein, erscheint dann aber doch in bunter Schürze und mit aufgebundenen blonden Haaren auf der kleinen Holztreppe neben der Rezeption, um den Besucher wenigstens guten Tag zu sagen. Dabei schauen ihr Tucholsky, Grass, Frisch und andere Literaturkoryphäen aus großen Schwarzweißfotos über die Schulter. „Du kannst ihm die Dreizehn zeigen oder die Siebzehn“, ruft Christa Moog dem Mann an der Rezeption zu und eilt wieder in die Küche. Es ist später Vormittag, um die Zeit kann schon was anbrennen.

Mit ihrem Mann hat Christa Moog 2003 das völlig heruntergekommene kleine Hotel Hospiz in der Fregestraße 68 übernommen und es zum ersten Berliner Literaturhotel aufpoliert. Sie ist in der DDR aufgewachsen, geriet als Lehrerin und Autorin in Konflikt mit der sozialistischen Obrigkeit und durfte 1984 in den Westen ausreisen. Dort wurde sie von Marcel Reich-Ranicki als großes Talent gefeiert, für ihr zweites Buch „Aus tausend grünen Spiegeln“ überreichte er ihr den „aspekte“-Literaturpreis. Dann wurde es still um die Autorin. Das Familienleben war ihr wichtiger als die literarische Karriere, nun hat sie als literarische Gastgeberin eine neue Berufung gefunden. Gefrühstückt wird unter Kronleuchtern im plüschig mit Teppichen, alten Sofas und vergoldeten Bilderrahmen möblierten Uwe-Johnson-Salon. Johnson hat gelegentlich im Hotel übernachtet. Im Salon fanden schon Lesungen mit Judith Hermann, Edgar Hilsenrath, Peter Schneider oder Hans Christoph Buch statt. In dem engen Haus herrscht eine gedämpfte, ja romanhafte Atmosphäre, ein lebenslanger Hotelbewohner wie Joseph Roth fühlte sich gut aufgehoben. Das elegante alte Doppelbett in der Christoph-Meckel-Suite wird gerade für ein Brautpaar bezogen, an den Wänden hängen filigrane Grafiken des Friedenauer Malerpoeten hinter Glas. „Jedes Möbel muss eine Prüfung ablegen, ehe es hereingelassen wird und jedes bringt eine Geschichte mit“, sagt Christa Moog. Wird sie ihre Hotelgeschichten irgendwann aufschreiben und veröffentlichen? „Im Moment habe ich dafür überhaupt keine Zeit.“

III. DIE BRÜCKE

Von ihrem Balkon in der Rembrandtstraße schaut Evelyn Weissberg auf die  Stadtautobahn, die S-Bahn-Gleise und eine Straßenbrücke, die den öden Schnellverkehrsgraben überspannt. Ernst Ludwig Kirchner malte die Straßenbrücke 1914 aus ähnlicher Perspektive, schräg von oben in kräftigen Farben. Er wohnte ein paar Häuser weiter. Seine expressionistische Stadtansicht schmückt als Kopie das Wohnzimmer, auch einen Buchumschlag und überhaupt alle Verlagspublikationen der von Evelyn Weisberg gegründeten „Edition Friedenauer Brücke“. Ihr winziger „One-Women-Verlag“ hat seit 2006 vier Bücher über die Kultur- und Literaturgeschichte Friedenaus herausgebracht, die schon durch ihren  Materialreichtum alles in den Schatten stellen, was es bisher zum Thema zu lesen gab. Zugleich sind die Bücher ungewöhnlich sorgfältig gestaltet und gedruckt, denn Evelyn Weisberg ist von Beruf Grafikerin. Ihr Mann Hermann Ebling besitzt eine riesige Fotosammlung und firmiert als Herausgeber der opulenten Ortschroniken. Seit 34 Jahren lebt das Paar in Friedenau. Wie viele junge Westdeutsche flohen die beiden seinerzeit vor dem drohenden Wehrdienst nach West-Berlin. Das Bürgerliche und Gemütliche an Friedenau hat ihnen sofort zugesagt. „Die Aura der Gründerväter der Siedlung aus der Kaiserzeit ist immer noch zu spüren gewesen. Die Kommilitonen zogen lieber nach Kreuzberg, aber uns hat das Aufgekratzte nicht so begeistert“, erzählt die Verlegerin. „Ich bin halt ein Friedenauer Landei.“

Der Mann verdient sein Geld als Tonmeister beim Film. Eines Tages stellte er seiner Frau seinen neuen Assistenten vor: Raoul Grass, der in der Niedstraße 13 als Sohn des berühmten Schriftstellers aufwuchs. Das Paar suchte Mitte der achtziger Jahre bereits einen Geldgeber für ein allererstes Buch über Friedenau. Raoul interessierte seinen Vater für das Projekt, so kam es zur Gründung eines Verlags, der nur ein einziges Buch herausbrachte. Nach den beiden Finanziers wurde er auf den Namen Zinsmeister & Grass getauft. Der Band „Friedenau. Aus dem Leben einer Landgemeinde“ erschien 1986, trotz des stolzen Preises von 78 Mark wurden alle 4000 Exemplare verkauft. Evelyn Weisberg hätte den Verlag gerne weitergeführt, drei Kinder ließen ihr nicht die Zeit dazu. Zwanzig Jahre später fing sie als Verlegerin noch einmal ganz von vorne an. Eben erschienen ist ein prächtiger Fotoband über Friedenauer Geschäfte in der Kaiserzeit, in Vorbereitung sind eine Lese- und Bilderbuch über die Nazijahre und ein Band über den „Roten Block“, eine in der Weimarer Republik gebaute Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz, in der etwa Ernst Bloch, Wilhelm Reich, Johannes R. Becher und Manès Sperber lebten. Wer sich als Friedenauer Landei immer tiefer in die Lokalhistorie hineingräbt, findet sich ganz schnell in der nationalen Literatur- und Kulturgeschichte wieder.

IV. DER ZAUBERBERG

Keine bunten Plakate, keine schreiende Bestsellerreklame. In den großzügigen, dunkelblau gerahmten Schaufenstern und Schaukästen herrscht bunte Vielfalt. Bücher aus mittleren und kleinen Verlagen konkurrieren fröhlich um Aufmerksamkeit. In der Schaufensterecke mit den russischen Autoren ist die Friedenauer Presse am stärksten vertreten. Die Wurzeln des Verlags und der berühmtesten Friedenauer Buchhandlung liegen in Russland: Beide hat der Buchhändler Andreas Wolff gegründet. Dessen Großvater besaß schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Buchhandlung in St. Petersburg, wo Dostojewski verkehrte. Die Tochter Katharina Wagenbach-Wolff führt die russische Tradition in der Friedenauer Presse fort. Ab und zu schaut sie in der 1931 eröffneten Buchhandlung vorbei, auch wenn dort seit vergangenem Jahr nicht mehr „Wolffs Bücherei“ über dem Schaufenster steht, sondern „Der Zauberberg“.

Sie hätte den alten Namen gerne beibehalten, sagt die neue Inhaberin Natalia Liublina, doch das sei nicht gegangen. Offenbar drückten Schulden das Traditionsunternehmen, das 1976 nach dem Tod Andreas Wolffs von den Buchhändlerinnen Barbara Stieß und Helga Steinhilber
übernommen worden war. Zu einer Zeit, als es noch kein Literaturhaus in der Berliner Innenstadt gab, war ihr Laden einer der wichtigsten Treffpunkte für die Gegenwartsliteratur. Nach der Wiedervereinigung und dem Ausscheiden von Barbara Stieß verlor Wolffs Bücherei an Bedeutung, das literarische Leben insgesamt zerstreute sich viel weitläufiger über die ganze Stadt. Kunden, die in "Wolffs Bücherei" nach Bestsellern oder Kriminalromanen fragten, wurden sehr ungnädig behandelt, bisweilen hinauskomplimentiert. Der verwinkelte Laden roch streng nach kaltem Zigarettenrauch, vor allem jüngeren Kunden war die Traditionsbuchhandlung unheimlich, sie gingen lieber in die neuen Medienkaufhäuser oder bestellten gleich bei Amazon.

Natalia Liublina fühlte sich in der Buchhandlung früher auch nicht wohl. Aber als sie gefragt wurde, ob sie den Laden übernehmen würde, hat sie es gewagt. Sie ist eine Quereinsteigerin, das heißt: Sie brachte ein Gespür für das Wesen einer literarischen Buchhandlung mit, das dem heutigen Buchhändlernachwuchs in Marketingseminaren zielstrebig abtrainiert wird. Natalia Liublina sprach nicht mal Deutsch, als sie 1994 aus der Ukraine nach Berlin auswanderte. Die Tochter eines sowjetischen Offiziers hatte Literaturwissenschaft studiert, in Berlin machte sie eine Lehre als Verlagskauffrau, schrieb Gutachten über russische Bücher für Verlage, übersetzte einige ins Deutsche, unter anderem Schriften der 2006 ermordeten russischen Journalistin und Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja.

Die Besitzerin reagiert reserviert, wenn sie auf die Tradition ihrer Buchhandlung als Treffpunkt der deutschen Nachkriegsliteratur angesprochen wird. Sie will keine Museumwärterin sein: „Ich habe Kinder, ich lebe in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit“, sagt Natalia Liublina. Sie hat die Räume kräftig durchlüftet, das Rauchen abgeschafft, ein „Kinderzimmer“ sorgfältig mit Büchern für den Nachwuchs bestückt, das Sortiment aktualisiert. Aber sie hat sich von den Vertretern nichts aufschwatzen lassen, keine bunten Aufsteller, keine Stapelware, keinen Schnickschnack. Auf den Tischen, in den alten Holzregalen ist der staunenswerte Reichtum an Büchern zu besichtigen, die nicht nur Ware sein wollen, sondern mit literarischem, intellektuellen oder gestalterischem Anspruch um Leser werben. Ein Zauberberg, wahrhaftig. Und die Geschichte von der russischen Bücherfee, die den Friedenauern ihre schönste Buchhandlung rettet, klingt sie nicht wie ein Märchen?

Literatur:

Christel und Heinz Blumensath: Das andere Friedenau. Herausgegeben vom Bezirksamt Schöneberg, 2. Auflage, 120 Seiten, Berlin 1996 (antiquarisch, immer noch der beste Führer für Spaziergänger im praktischen Westentaschenformat).

Friedenau. Aus dem Leben einer Landgemeinde. Eine Dokumentation von Hermann Ebling, 160 Seiten, Zinsmeister & Grass, Berlin 1986 (antiquarisch).

Der Friedenauer Künstlerfriedhof, Edition Friedenauer Brücke, Berlin 2006, 136 Seiten (vergriffen).

Hermann Ebling (Hg.): Friedenau erzählt. Geschichten aus einem Berliner Vorort 1871-1914, Edition Friedenauer Brücke, Berlin 2007, 352 Seiten, 39 Euro. 

Hermann Ebling (Hg.): Friedenau erzählt. Geschichten aus einem Berliner Vorort 1914-1933, Edition Friedenauer Brücke, Berlin 2008, 352 Seiten, 39 Euro.

Friedenauer Geschäfte 1900-1914, Edition Friedenauer Brücke, Berlin 2010, 132 Seiten, 30 Euro.

Links:

www.literaturhotel-berlin.de
www.friedenauer-bruecke.de
www.der-zauberberg.eu


© Text und Foto: Michael Bienert -
Erstdruck im literaturblatt baden-württemberg, Nr. 100, Juli / August 2010














Dieser Artikel erschien im literaturblatt baden-württemberg
Nr. 100
Juli / August 2010




 
 
 

 










 

Die Bücher
Audioguides
Stadtführungen
Aufsätze im www
Kulturrepublik
Theaterkritiken
Ausstellungen
Reisebilder
Kulturmenschen
Denkmalschutz

Aktuelles im Blog
Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Impressum I Suche
Kontakt