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MARTIN-GROPIUS-BAU I TÜR AN TÜR

Menschen statt Mythen

von Michael Bienert

Ein Drittel der Deutschen mag die Polen, das ergab eine aktuelle Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie. Etwa die Hälfte konnte sich nicht entscheiden, nur ein kleiner Rest findet Polen unsympathisch. Bei unseren östlichen Nachbarn kreuzten sogar 48 Prozent „Ich mag die Deutschen“ an. Zwanzig Jahre nach der vertraglichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und dem deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag hat sich das Verhältnis erstaunlich entspannt. Die erste polnische EU-Ratspräsidentschaft fällt mit diesen Jubiläen zusammen: Anlass für einen polnischen Kulturherbst in der deutschen Hauptstadt.

So kommen im Martin-Gropius-Bau 16 Jahre nach der epochalen „Berlin-Moskau“-Ausstellung über die deutsch-russischen Kulturbeziehungen endlich die Polen zum Zuge: „Tür an Tür“ heißt die Zusammenschau von tausend Jahren deutsch-polnischer Kulturgeschichte mit über 800 Exponaten, gemeinsam erarbeitet mit dem Königsschloss in Warschau und Experten aus beiden Ländern. Angelpunkt der zentralen Ausstellungsinszenierung im weiten Lichthof ist ein mittelalterliches Messgewand mit einem schwarzen Ordenskreuz.  Deutsche Kreuzritter drangen im 13. Jahrhundert bis ins Baltikum vor und errichten auf dem Territorium der unterworfenen Prussen einen christlichen Staat. 1410 aber wurden die Deutschordensritter von einem polnisch-litauischen Heer in Tannenberg vernichtend geschlagen. Der letzte Hochmeister des Ordens schwor 1525 dem polnischen König Sigismund I. den Lehnseid und wurde der erste weltliche Herzog von Preußen.

Diese beiden Ereignisse vergegenwärtigte der Maler Jan Matejko im 19. Jahrhundert in riesigen Historienbildern, zu einem Zeitpunkt, als sich die Machtverhältnisse umgedreht hatten: Jetzt kämpften die Polen um einen eigenen Staat. Tannenberg wurde zum nationalen Mythos erhoben, mit Folgen. Matejkos Schlachtengemälde musste im Zweiten Weltkrieg wie eine Reliquie heimlich vergraben werden, um es vor der Zerstörung durch die deutschen Besatzer zu schützen. Deutschland pflegte seinen eigenen Tannenberg-Heldenmythos, anknüpfend an eine gewonnene Schlacht des Generals Hindenburg im Ersten Weltkrieg.
 
Die Inszenierung im Lichthof mischt den mythischen Schwulst von einst mit   ironischen Kommentaren zeitgenössischer polnischer Künstler. Erst 2010 schuf der Maler Edward Dwurnik ein tiefblaues Wimmelbild mit dem Titel „Schlacht bei Tannenberg“, ohne Heroisierung zeigt es Hunderte fluchender Gestalten bei einer wüsten Massenschlägerei. Ein Video der Künstlerin Bogna Burska mischt Film- und Computerspielbilder von der Schlacht, selbst Playmobilfiguren treten darin auf.

„Magazin der Geschichte“ hat Jarosław Kozakiewicz den Stahlkäfig im Lichthof genannt, an dem die Arbeiten wie in einem Museumsdepot hängen. Auch sonst treffen jahrhundertealte Kostbarkeiten auf erfrischende Gegenwartskunst. Gleich im ersten Raum des Ausstellungsrundgangs spiegeln sich bunte Neonlichter einer Installation von Mirosław Bałka auf mittelalterlichen Darstellungen des Heiligen Adalbert und der Königin Richeza. In Saalfeld geboren, heiratete Richeza 1013 den polnischen Prinzen Mieszko, nach dessen Tod kehrte sie ins Heilige Römische Reich zurück. Im Kölner Dom liegt die polnische Königin begraben.
 
Solchen Biografien vor allem machen die Nähe beider Völker begreiflich. Der Nürnberger Bildhauer Veit Stoß ging 1477 nach Krakau und arbeitete 12 Jahre lang am Hochaltar der Marienkirche. Dieses polnische Kulturheiligtum konnte nicht nach Berlin reisen, dafür sind erstmals sämtliche Kupferstiche und Zeichnungen des Meisters versammelt. Von Deutschen und Polen lange für die eigene Nation reklamiert wurde auch der Astronom Nikolaus Kopernikus, katholischer Preuße und polnischer Untertan. Zum 400. Todestag im Jahr 1943 druckten polnische Kriegsgefangene eigene Briefmarken mit seinem Porträt, während die Post der Besatzungsmacht dem „deutschen Astronomen“ huldigte.
Der sinnenfrohe sächsische Kurfürst August der Starke wurde 1697 zum polnischen König gewählt, was außerhalb Sachsens kaum jemand weiß. Er ließ nicht nur in Dresden seiner Baulust freien Lauf, sondern auch in Warschau. Die erstarkten Preußen, Österreicher und Russen teilten im 18. Jahrhundert den polnischen Staat unter sich auf, konnten aber die Kulturnation nicht auslöschen. In der Musik, Literatur und Malerei lebte die Idee der Eigenständigkeit weiter, bei Chopin oder beim von Goethe geschätzten Nationaldichter Adam Mickiewicz, aber auch bei Richard Wagner oder Heinrich Heine, die sich im 19. Jahrhundert für den polnischen Freiheitskampf begeisterten.
 
Um 1900 schrieb der polnische Avantgardeautor Stanisław Przybyszewski auf Deutsch, er traf sich in Berlin mit Strindberg und Edvard Munch. Rozalia Luksenburg aus Zamość  wurde als Rosa Luxemburg zur Wortführerin der Linken in der deutschen Sozialdemokratie. Nach dem Ersten Weltkrieg zählten polnische Künstler wie Stanisław Kubicki oder Katarzyna Kobro selbstverständlich zur internationalen Avantgarde der Kubisten und Konstruktivisten. Gemeinsam hängen ihre Werke in einem mondrianesk mit bunten Rechtecken ausgemalten Ausstellungsraum.

Behutsam geht die erfahrene polnische Kuratorin Anda Rottenberg mit dem Trauma der deutschen Besatzung und des Holocaust um. Sie zeigt nur wenige  stumme Originalzeugnisse wie die Postverpackung der Urne, in der die Asche des verschleppten Universitätsrektors Stanisław Estreicher zurück nach Krakau geschickt wurde. Der Fokus liegt auf der künstlerischen Trauerarbeit: 1949 malte  Andrzej Wróblewski eine Mutter mit ihrem zyankaliblauen toten Kind von auf dem Arm, um 1970 bildete Alina Szapocnikow versehrte Körperteile in Kunststoff nach. Originalfotos aus Auschwitz verarbeitete der deutsche Maler Gerhard Richters in seinem “Atlas”, einem zu Studienzwecken angelegten Bildarchiv.
 
Für das Reizthema der deutschen Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg konnte oder wollte die Kuratorin keine künstlerischen Statements finden, sie beschränkt sich darauf, westdeutsche Propandaplakate für den Schulgebrauch (“Deutscher Lebensraum unter fremder Verwaltung”) mit polnischer und DDR-Propagandakunst (“Wie lebt der Arbeiter in Polen?”) zu konfrontieren. Umso ausführlicher werden die Kontakte zwischen polnischen und westdeutschen Avantgardekünstlern seit den 1960er Jahren gewürdigt. 1981 schickte Joseph Beuys seinen “Polentransport” auf die Reise, eine Kiste mit eigenen Arbeiten für das Kunstmuseum Lodz. Günther Uecker hämmerte 1982 für eine Auktion gegen das Kriegsrecht seine Nagelskulptur “Splitter für Polen”. Und Anselm Kiefer schuf nicht weniger als 15 Werke, die alle den Titel “Noch ist Polen nicht verloren” tragen.
 
Einen eigenwilligen Blick auf die deutsche Teilung wirft der Regisseur Bartosz Konopka in seinem Dokumentarfilm “Mauerhase”, darin geht ums Leben einer Hasenkolonie an der deutsch-deutschen Grenze. 1990 projizierte Krzystof Wodiczko auf das Lenindenkmal in Ost-Berlin einen polnischen Touristen mit Einkaufstüten von Aldi. Humorvoll sollte man auch den letzten Raum des Parcours nehmen, eine von dem Deutschen Gregor Schneider und dem Polen Piotr Uklański schrammlig eingerichtete Tiefkühlkammer.  Nicht doch: So eisig waren die deutsch-polnischen Beziehungen schon lange nicht mehr. Aber etwas mehr Herzenswärme, vor allem von deutscher Seite, würde nicht schaden.

TÜR AN TÜR  Die Ausstellung der Berliner Festspiele  im Martin-Gropius-Bau ist bis 9. Januar 2012 täglich außer dienstags von 10 – 20 Uhr geöffnet. Katalog im DuMont Verlag, 780 Seiten, 22 Euro. Mehr unter www.gropiusbau.de

BLICKWECHSEL Unter diesem Titel nimmt die die Akademie der Künste ab Ende Oktober den Dialog mit polnischen Künstlern verschiedener Sparten auf, eine  Ausstellung wird sich den Medienpionieren Zbigniew Rybczyński und Gábor Bódy widmen. Mehr unter www.adk.de/Blickwechsel

OBOK - NEBENAN  Weitere Institutionen beteiligen sich am polnischen Kulturherbst, derzeit zeigt das Polnische Institut eine Ausstellung über den Dichter Jan, eine weitere Schau zur polnischen Gegenwartskunst plant das Künstlerhaus Bethanien ab 21. Oktober. Mehr unter www.berlinerfestpiele.de

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 24. September 2011

© Text und Fotos: Michael Bienert






.Kulturtransfer
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 Interview von
 Iwona Uberman
 mit der
 Kuratorin der
 Ausstellung
 Tür an Tür,

 Anda Rottenberg

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