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THEATERKRITIK Krankenzimmer Nr. 6 von Anton Tschechow. Premiere am Deutschen Theater am 26. Februar 2010. Regie: Dimiter Gotscheff. Mit Wolfram Koch, Samuel Finzi, Margit Bendokat, Almut Zilcher u. a. Tschechows Irrenhaus von Michael Bienert Dem Gefühl nach ist Tschechow der erfolgreichste Dramatiker auf deutschen Bühnen, seit Jahren schon, selbst wenn das statistisch gar nicht stimmt. Denn Tschechows Stücke durchleuchten eine Gesellschaft, die trotz aller Modernisierungsschübe nicht vom Fleck kommt. Es fehlt darin nicht an Weltverbesserern und tatkräftigen Unternehmern, aber die Leute werden nicht glücklicher, sondern immer resignierter und melancholischer. Oder sie schießen sich eine Kugel durch den Kopf wie der junge Konstantin in der „Möwe“. Tschechows Welt ist zum Verrücktwerden und gleichzeitig ein Gefängnis. Am Deutschen Theater hat sie nun der Regisseur Dimiter Gotscheff vollends in eine Irrenanstalt verwandelt. Wie bei den meisten großen Tschechow-Inszenierungen bleibt die Bühne fast leer. Vor dem großen weißen Rundhorizont bläst ein Tubaspieler (Philipp Haagen) mit hellblauer Wollmütze und kurzen Hosen populäre Melodiefragmente von Tschaikowski und Prokofjew: eiin wunderschönes, sehr poetisches Bild geistiger Zerrüttung. Dann tritt eine wunderliche alte Dame mit Mädchenzöpfen (Margit Bendokat) an die Rampe und beginnt mit übertriebenen Gesten eine Geschichte zu erzählen. Tschechows Erzählung „Krankenzimmer No. 6“ handelt von einem überarbeiteten Doktor (Samuel Finzi) in einer russischen Provinzstadt. In weißem Arztkittel macht er seinen Patienten gymnastische Übungen vor. Dem Publikum hält er einen Vortrag über die Vorzüge der modernen Psychiatrie: Statt die Patienten zu quälen, veranstaltet man lieber Theatervorstellungen für sie! Die Geschichten der Anstaltsinsassen sind aus anderen Werken Tschechows vertraut. Einer (Andreas Döhler) wirkt traumatisiert von den elenden Zuständen in russischen Gefängnissen, die der Dramatiker studierte. Eine junge Frau im Brautkleid (Katrin Wichmann), an ungestilltem Liebesverlangen leidend, erinnert an die Sonja aus „Onkel Wanja“. Eine andere Dame (Almut Zilcher) kommt über den Tod ihres Sohnes nicht hinweg, so wie die Gutbesitzerin im „Kirschgarten“. Ein Mann im Frack (Harald Baumgartner) steht wohl für die braven Bürger bei Tschechow, die von Verdienstorden träumen. Kurze Anfälle von Verfolgungswahn plagen den verwahrlosten Gromov (Wolfram Koch), der sonst völlig klar im Kopf ist. Gromov stellt seinen Arzt zur Rede: Er begreift nicht, warum er überhaupt einsitzt. Der Doktor weiß darauf auch keine plausiblen Antworten. Er gerät in den Sog seines Patienten, verliert den Kontakt zur Außenwelt, wird deshalb von einer Kommission selbst für krank erklärt und eingesperrt. Die Bühnenbildnerin Katrin Brack läßt Dutzende Scheinwerfer vom Schnürboden bis dicht über die Köpfe der Spieler herunterfahren. Mal bedrängt und verfolgt die Lichtmaschinerie die Patienten, mal schwebt sie leicht wie in einem Lufthauch. Eine Bühnenlandschaft mit Tschechowfiguren ergibt allerdings noch kein überzeugendes Drama, dazu bleibt der Faden der Erzählung zu dünn. Die Welt als Irrenhaus zu spiegeln, ist auch keine wahnsinnig orginelle Idee, daher zieht sich der zweistündige Abend doch ein wenig in die Lände. Am Ende bleibt offen, wo die Verrückteren sitzen, ob unten im Publikum, ob oben auf der Bühne oder in den geschlossenen Anstalten. Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 1. März 2010 © Text und Foto: Michael Bienert |
Michael Bienert Mit Brecht durch Berlin Insel Verlag it 2169 272 Seiten Mit zahlreichen Abbildungen ISBN 3-456-33869-1 10 Euro |
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