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THEATERKRITIK

Kleinbürger von Maxim Gorki. Premiere am Deutschen Theater am 10. Mai 2011. Regie: Jette Steckel. Mit Peter Mooshammer, Barbara Schnitzler, Ole Lagerpusch, Natali Seelig u. a.

Nichts wie raus aus der Mitte!

Von Michael Bienert

Kleinbürger mag sich niemand gerne nennen. Umso heftiger drängt alles in die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Genau dort aber hat die marxistische Theorie einst die Kleinbürger lokalisiert: Sie zählten weder klar zu den Ausbeutern noch zu den Ausgebeuteten, sondern bildeten die schwankende Masse dazwischen. Nicht revolutionär, auch nicht reaktionär, aber von beidem ein bisschen. In Deutschland entspricht das exakt der Positionierung jener Parteien, die Mehrheiten erringen und das Führungspersonal stellen. So gesehen ist die heutige Bundesrepublik unzweifelhaft eine Kleinbürgerrepublik.

Mit ironischer Distanz skizziert Gorki in seinem ersten Stück „Kleinbürger“ die Mentalität der gehobenen Mittelklasse im vorrevolutionären Russland. Es ist als Familiendrama angelegt, denn vor allem im Kreise seiner Lieben sucht der Kleinbürger sein Heil. Die Zumutungen der Welt mögen bitte draußen bleiben. Doch kann die Einkapselung des Familienfriedens auf Dauer nicht funktionieren. Die kleinste Zelle des gesellschaftlichen Gefüges, die Familie, mutiert bei Gorki zum Spiegelbild des maroden Staates. Die Alten haben darin zwar noch die Macht, aber keine Autorität mehr. Die Jungen fühlen sich eingesperrt und unverstanden, mit wachsender Aggressivität stellen sie die Ordnung in Frage, in der sie aufgewachsen sind.

Der Schauplatz von Jette Steckels Inszenierung am Deutschen Theater ist kein enges Bürgerhaus, sondern ein weiter Raum, in dessen Mitte der Bühnenbildner Rufus Didwiszus eine große Denkmalfigur gestellt hat. Sie scheint in die Zukunft zu zeigen, doch sehen die Zuschauer nur ihren Rücken. Stehlampen aus den Fünfzigern, Stühle und ein Klavier stehen in einer mit hellem Kies bestreuten Landschaft herum. Auch die dezente Hintergrundmusik (des Gitarristen Mark Badur) gibt der Szenerie eine gewissen Leichtigkeit. Hinter dem Rücken der Denkmalfigur sitzen die Kleinbürger und trinken Tee und gehen sich auf die Nerven. Ihre permanente nörgelnde Unzufriedenheit ist eigentlich ziemlich langweilig, jedoch nähert sich die Aufführung den Figuren und ihren Beziehungen mit solchem Feingefühl, dass man zwar nicht mitleidend, aber zusehends interessiert dem Zerfall der Familie zuschaut.

Helmut Mooshammer als Bessemjonow ist nicht nur ein bornierter Geizkragen, sondern vor allem ein tief verunsicherter Vater, den das Verhalten seiner Kinder ängstigt und verletzt. In einer Videoeinspielung sieht man den Schauspieler in seiner Wohnung, er erzählt von den spießbürgerlichen Erwartungen seines eigenen Vaters an ihn. Die Aufführung spielt hier mit offenen Karten. Sie macht Erlebnisse und Fragen kenntlich, mit denen die Schauspieler an ihre Rollen herangehen. Barbara Schnitzler, im Stück in der  Mutterrolle, zeigt ihr Junggebliebensein bei einem Gesangsauftritt im Berliner Mauerpark. Katrin Wichmann (Jelena) liest aus Jugendtagebüchern vor, und wenn Peter Jordan privat über das Glück philosphiert, klingt das ähnlich düster wie die Monologe des Säufers Teterew, den er spielt.

Solche Homevideos könnten leicht aufgesetzt wirken, fügen sich hier aber in die essayistische Struktur der Inszenierung. Statt die Aktualität von Gorkis Generationendrama zu behaupten, sucht das Ensemble geduldig danach. Die Tochter Tatjana (Natali Seelig) wird so zur Lehrerin mit Burn-Out-Syndom, der Sohn Pjotr (Ole Lagerpunsch) zum in sich selbst kreisenden Intellektuellen ohne Handlungsoption. Wahres Glück winkt nur denjenigen, die rechtzeitig den Ausbruch aus der Mittelschicht wagen wie der verwahrloste Vogelhändler Pertschichin (Markus Graf), seine Tochter Polja (Olivia Gräser) und Bessemjonows Pflegesohn Nil. Der frühere Stuttgarter Publikumsliebling Felix Goeser hat genau die richtige Statur für diesen Kraftburschen, der auf die Angststarre der alten und jungen Kleinbürger keine Rücksicht nimmt. Folgerichtig überschreitet Goeser auch gegenüber dem Publikum eine Grenze. Überraschend tritt er als Einpeitscher an den Bühnenrand und skandiert: „Wir werden das nicht länger hinnehmen, die Dinge müssen sich ändern.“ Der Aufforderung, sich von den Sitzen zu erheben und mitzumachen, folgte am Premierenabend tatsächlich eine Handvoll Zuschauer. Der Aufstand blieb aus, aber den Versuch war es wert.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 12. Mai 2011

© Text und Foto: Michael Bienert







Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
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