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AUTOBATTERIE UND WELTREVOLUTION
Bertolt Brechts Notizbücher 1927 - 1930

"Hier ist eine Welt, / sie ist / in Unordnung. / -- / -- / Wer also ist bereit + / Ordnet sie?“, kritzelt der 30-jährige Bertolt Brecht in sein Notizbuch. Nachträglich schreibt er "1. Chor" darüber, weiter unten auf dem Blatt deuten die Buchstaben "RL" an, dass Rosa Luxemburg dem Chor antworten sollte. Jahrzehntelang plante Brecht ein Stück über die Mitbegründerin der KPD, das nie fertig wurde. Die Notizen von 1928 lassen sich als möglicher Anfang und Endpunkt eines kommunistischen Lehrstücks lesen; auf dem zweiten Blatt skizzierte Brecht: "2. Chor / Also ist beschlossen dein / Schicksal: du / wirst sterben / -- / Wirst du jammern wenn / sie dich töten? / RL / Nein".

In der Zählung des Brecht-Archivs trägt das Notizbuch die Nummer 24, Brecht selbst hat erst eine 1 auf den Vorsatz gemalt und später eine 8 daraus gemacht. "Fatzer" steht oben auf der ersten Seite, denn ursprünglich war das in schwarzes Kunstleder gebundene Heft für ein anderes, später aufgegebenes Projekt reserviert; es füllte sich dann mit Telefonnummern, Keunergeschichten, Skizzen für die 1928 unter großem Zeitdruck zur Uraufführung gebrachte "Dreigroschenoper" und Material für weitere Stücke, Gedichte, Projekte.

Für ein Reklamegedicht auf Luxusautos der Firma Steyr wertete Brecht einen Autoprospekt aus: „3m langer Radstand / klebt in der Kurve.“ Das Gedicht brachte Brecht einen nagelneuen Wagen ein und auf die Idee zu einer „Autokomödie“. Sie sollte von einer Familie handeln, die beim Autokauf übers Ohr gehauen wird und aus finanzieller Not auf die schiefe Bahn gerät.

Grundsätzliche Überlegungen zur Abschaffung des Kapitalismus und überkommener Theaterformen stehen im Notizbuch neben der Adresse eines Spezialisten für Geschlechtskrankheiten und Anleitungen für medizinische Sitzbäder. Der Autofreak Brecht verzeichnete eigenhändig die elektrischen Anschlüsse in seinem Steyrwagen, dabei kann er nicht nur die Betriebsanleitung benutzt haben. Das weisen die Herausgeber Peter Villwock und Martin Kölbel im akribischen Kommentar ihrer Notizbuchedition nach, unbekümmert um die Frage nach der Relevanz solcher Erbsenzählerei.

Ihre Edition folgt dem Programm des Heidelberger „Instituts für Textkritik“ und stellt neben Faksimiles der einzelnen Seiten eine Transkription. Damit sichern die Herausgeber ein Höchstmaß an Authentizität in der Überlieferung des Originals. Der Kommentar ordnet die kryptischen Krakeleien in größere Lebens- und Werkzusammenhänge ein. So zitieren sie etwa Belege herbei, dass Brecht die Beschlagnahme seines Autos durch die Nazis kaum weniger schmerzte als der Verlust seines Publikums durch die erzwungene Emigration.

Mitte Januar 2011 will der Suhrkamp Verlag die Notizbuchfaksimiles samt Kommentaren auch online publizieren, dann wird man auf dem heimischen Bildschirm Brechts Autonotizen direkt mit dem elektrischen Schaltplan des Steyrwagens vergleichen können. Die elektronische Edition der Notizbücher 24 und 25 wäre der erste Baustein zu einer völlig neuen Brecht-Ausgabe, die den Nachlass weltweit so zugänglich macht, wie er bisher nur im Berliner Brecht-Archiv eingesehen werden kann.

Das Archiv umfasst rund eine Million Dokumente, davon rund 200.000 Blatt Werkmanuskripte, die Brecht noch zu Lebzeiten in eine vorläufige Ordnung gebracht hat. Wie Goethe war er sein erster Archivar und hielt Unvollendetes für genauso wertvoll wie die gedruckten Werke. Nach Brechts Tod war die Furcht vor einer Säuberung des Nachlasses in Ostberlin so groß, dass Mitarbeiter sofort begannen, ihn zu verfilmen und Kopien nach Basel, Harvard und Moskau zu schicken. Editionsspezialisten aus Ost und West konzipierten eine historisch-kritische Werkausgabe in 60 Bänden, um den Dichter politischer Vereinnahmung zu entziehen. Wegen der Masse des Materials wäre sie absehbar auf 250 Bände angeschwollen.

Brechts Frankfurter Verleger Siegfried Unseld stoppte 1964 das Vorhaben, dadurch wurde eine von Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann betreute Leseausgabe zur maßgeblichen Werkedition. Seit 1988 erschienen die 33 Bände der "Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe", die heutige Basis aller Brecht-Forschung. Sie wird von Villwock und Koelbel dankbar benutzt und heftig kritisiert: Brechts Notizbücher, 54 an der Zahl, seien von den früheren Editoren bloß als Steinbruch behandelt, Eintragungen willkürlich nach Gattungen sortiert und auf verschiedene Bände verstreut worden. 

Der Herausgeberstreit eskalierte vor knapp drei Jahren, als der "Spiegel" zum 110. Geburtstag des Meisters den "Abschied vom Beton-Brecht" annoncierte und behauptete, die Notizbuchedition werde ein völlig neues, weil unverfälschtes Bild des Autors vermitteln. Damals war die vom Deutschen Literaturfonds finanzierte Arbeit an den Notizbüchern von 1927 bis 1930 schon weit gediehen. Der Suhrkamp Verlag machte jedoch  eine Weiterfinanzierung zur Vorbedingung für eine Veröffentlichung. Erst als im Frühjahr 2010 die Otto-Wolff-Stiftung einsprang, war der Weg frei.

Aus der germanistischen Binnensicht bringt die Faksimile-Edition gewiss Vorteile: Sie versetzt Brecht-Forschern weltweit in die Lage, sich ein Bild von der Originalquelle zu machen und daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Wirklich Neues und Sensationelles allerdings steht kaum in den Notizbüchern. Schon gar nicht kann von einer Revision des Brecht-Bildes die Rede sein. Die Mehrzahl neuerer Ausgaben und Untersuchungen zielte darauf, das antiquierte Bild vom "sozialistischen Klassiker" zu demontieren. Es entspricht dem Forschungsstand, dass Brecht eben kein verbohrter Dogmatiker war, sondern immer neugierig, kommunikativ und widersprüchlich.

So und nicht anders begegnet er einem nun auch in den Notizbüchern. Typisch für Brecht, dass sich darin gleichzeitig Konzepte für eine erste Werkausgabe finden und zugleich die Absage an den Personenkult, der mit solchen Editionen getrieben wird: „Das einzige, was Herr Keuner über Stil sagt ist: Er sollte zitierbar sein. Ein Zitat ist unpersönlich. Was sind die besten Söhne? Jene, welche den Vater vergessen machen!“

Bertolt Brecht: Notizbücher 1927-1930. Herausgegeben von Martin Kölbel und Peter Villwock. Suhrkamp Verlag, 540 Seiten, 24,90 Euro.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 4. Januar 2011

© Text: Michael Bienert / Foto: Suhrkamp Verlag / Akademie der Künste / Bertolt-Brecht-Archiv







Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro








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