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AUSSTELLUNGEN
I BERLIN BIENNALE 2010


Enjoy Poverty

von Elke Linda Buchholz

Wild gestikulierend schreien Börsenhändler durcheinander, Kursnotierungen rattern durchs Bild. Gegenüber rüstet sich eine Guerillatruppe von schwarze Fischern am Nigerdelta zum Kampf. Mit Maschinengewehren in der Hand erklären sie den Weißen den Krieg. Denn die von der Ölindustrie verschmutzten Fischgründe ernähren ihre Familien nicht mehr. Mit hypnotischer Wucht lässt der amerikanische Künstler Mark Boulos die beiden parallelen Realitäten in seiner Videoinstallation aufeinanderprallen. Die Ölkatastrophe gibt ihr aktuelle Brisanz.

Die 6. Berlin-Biennale will den Blick für die Realität schärfen, für das "Was draußen wartet", so der Titel der Ausstellung. Mit ihrem gesellschaftskritischen Anspruch bleibt die Kuratorin Kathrin Rhomberg der Tradition der 1998 gegründeten Biennale treu. Über vierzig Künstler aus aller Welt hat sie ausgewählt und als Gewährsmann des Realismus den Altmeister Adolph Menzel mit ins Boot genommen.

Ihr Hauptquartier hat die Biennale in Kreuzberg in einem leerstehenden Warenhaus der Kaiserzeit aufgeschlagen. Es gibt sie also noch, die nicht sanierten, rauen Orte mit dem typischen Berliner Ruinencharme. Doch mittlerweile wirkt das eigenartig anachronistisch. Der in Baden-Württemberg geborene Künstler Adrian Lohmüller lässt in dünnen Kupferrohren Wasser durch alle fünf Etagen des heruntergekommenen Gebäudes zirkulieren, als sei der alte Baukörper ein lebendiges Wesen: eine wunderbar schlichte Installation, die greifbare Realität poetisch umdeutet. Doch solche Arbeiten sind selten. Die Kuratorin Rhomberg setzt vor allem auf Fotografie und Video, um Realität dingfest zu machen. Allenthalben flimmert und dröhnt es.

"Enjoy (please) Poverty" fordert die riesige Neonleuchtschrift, die der Niederländer Renzo Martens im afrikanischen Busch aufgestellt hat. Ist das zynisch? Sein neunzigminütiges Video jedenfalls geht unter die Haut. Es zeigt verhungernde Kinder, Elend in Großaufnahme, vor allem aber die Medienmaschinerie, die Produktion und Verwertung von Bildern des Elends für die "Erste Welt". Auch andere Filmemacher versuchen, die Strategien der herrschenden Medien, die glatte TV-Bilderwelt zu unterlaufen. Das israelische Künstlerinnen-Duo Sela & Amir filmt Sex in Bartoiletten. Unablässig marschieren Demonstrationszüge durch Paris: Seit 1990 filmt Bernard Bazile sämtliche Protestmärsche in der Stadt. "Die Arbeiten geben dem Künstlerischen nur so viel Raum, wie notwendig ist, um die Wirklichkeit sichtbar zu machen," meint Rhomberg. Doch der kritische Impetus der politisch korrekten, wackeligen Bilder läuft sich tot, wenn die Kunst dabei auf der Strecke bleibt.

Ihre stärksten Momente hat die Biennale da, wo sie nicht dem medialen Abbild, sondern der sinnlichen Kraft des Ortes, des Materials, des Gegenstands vertraut. Der vietnamesische Künstler Danh Vo öffnet für die Besucher seine winzige Privatwohnung und lässt sie rätseln, wo zwischen Reiskocher und Schreibtisch die Kunst steckt. Den traditionellen Hauptort der Biennale, die "Kunstwerke" in Berlin-Mitte, betritt man diesmal durchs Kellergeschoss. Und steht dann staunend vor einem gewaltigen Gerüst aus Holzverschalungen, einem ganzen Haus samt Treppen und drei Geschossen, das sogar über den Ausstellungsraum hinaus ins Freie wächst. Es ist das im Kosovokrieg zerstörte Elternhaus des jungen Künstlers Petrit Halilaj, dessen Leerform er nach Berlin verpflanzt hat, samt lebendigen Hühnern. Melancholisch gackernd picken sie zwischen den Holzbohlen herum. Migranten auch sie.

Bis zum 8. August. Das Kataloghandbuch (12,95 Euro) und der Reader (25 Euro) sind im DuMont-Verlag erschienen

Weitere Infos unter www.berlinbiennale.de

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG v. 16. Juni 2010



© Text und Fotos: Elke Linda Buchholz



Michael Bienert
Elke Linda Buchholz
Die Zwanziger Jahre
in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt

Berlin Story Verlag
280 Seiten
19,80 Euro



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