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Schwebende Schwere Ernst Barlachs Spuren in Güstrow und der Literatur Von Elke Linda Buchholz „Dann wurde er sich der Anwesenheit der Figur bewußt. Sie saß, klein, auf einem niedrigen Sockel aus Metall, zu Füßen des Pfeilers schräg gegenüber. Sie war aus Holz geschnitzt, das nicht hell und nicht dunkel war, sondern einfach braun... Die Figur stellte einen jungen Mann dar, der in einem Buch las, das auf seinen Knien lag. Der junge Mann trug ein langes Gewand, ein Mönchsgewand, nein, ein Gewand, das noch einfacher war als das eines Mönchs: einen langen Kittel. Unter dem Kittel kamen seine nackten Füße hervor. Seine beiden Arme hingen herab. Auch seine Haare hingen herab, ... die Augen schienen auf den ersten Blick geschlossen, aber sie waren es nicht, der junge Mann schlief nicht ... Was tat er eigentlich? Er las ganz einfach. Er las aufmerksam. Er las sogar in höchster Konzentration.“ In der Stille der gotischen Gertrudenkapelle in Güstrow ist die Konzentration des „Lesenden Klosterschülers“ von Ernst Barlach, den Alfred Andersch so plastisch beschreibt, fast körperlich spürbar. Hier ist man selbst sonntags mit dem Lesenden und seinen aus Holz und Gips geformten Gefährten aus Barlachs Werkstatt allein. Seit 1953 ist die kleine Kirche Barlach-Museum, auf dem baumbestandenen Kirchhof geben sich mittelalterliche Gräber und Werke der DDR-Bildhauerei ein friedliches Stelldichein. Die Zeit scheint hier stillzustehen. Die Gertrudenkapelle war das erste Barlach-Museum überhaupt und ist mittlerweile fast ein Museum seiner selbst. Wenige Jahre nach der Eröffnung der Gedenkstätte erschien im Westen 1957 Alfred Anderschs Roman „Sansibar oder der letzte Grund“, in dem der „Lesende Klosterschüler“ eine Schlüsselrolle spielt. Seinen Protagonisten Gregor, einen überzeugten Kommunisten, lässt Andersch eine überraschende Entdeckung machen: „Das sind ja wir... Genau so sind wir in der Lenin-Akademie gesessen und genau so haben wir gelesen, gelesen, gelesen... So versunken wie er... Er trägt unser Gesicht, dachte er, das Gesicht der Jugend, die ausgewählt ist, die Texte zu lesen, auf die es ankommt.“ Auf welche Texte aber kommt es an? Einer, der genauso liest, mit halb geschlossenen Lidern, das aufgeschlagene Buch auf den Knien, sitzt in den Kellergewölben des Güstrower Renaissance-Schlosses. Auch er ist aus hartem Holz geschnitzt, aber schon über 500 Jahre alt. Ein anonymer Künstler aus Rostock hat den lesenden Evangelisten Johannes für das Kloster Dobbertin geschaffen. Barlach hat ihn sicher gekannt. Ebenso wie die großartigen, expressiv bewegten Apostelfiguren an den Pfeilern des Güstrower Doms mit ihren wild flatternden Gewändern, Locken und Bärten. Ihnen ist Barlachs Kunst nahe. Sein Metier war nicht der menschliche Akt, den die abendländische Bildhauerkunst seit der Renaissance zum Maß aller Dinge machte, sondern die Gewandfigur, blockhaft kompakt und ausdrucksgeladen. Im Seitenschiff des Doms hängt Barlachs berühmteste Plastik, der schwebende Engel. Er war die erste monumentale Arbeit des bereits über 50jährigen Künstlers. Kein Auftragswerk: Als man 1927 zur 700-Jahrfeier des Domes einen Gedenkstein für die Weltkriegsgefallenen plante, schlug Barlach vor, lieber etwas Figürliches zu schaffen. Angekettet an den Schlussstein des Gewölbes schwebt der Engel im Raum, ohne Flügel, gänzlich unbewegt, tonnenschwer und trotzdem plausibel in seinem Schweben. Ein Sinnbild der schmerzvollen Erinnerung. Die Kriegstoten zeigt das Denkmal nicht: Es denkt sie mit. Die Gesichtszüge des Engels gleichen Käthe Kollwitz; auch ihr Sohn Peter war im Krieg gefallen. Zehn Jahre nach der Einweihung war der Engel verschwunden. „Kein Engel hing da; ... Barlach... sah hinauf: im Schlußstein des Jochs stak, schwarz, der Haken, Barlach sah Schlußstein und Haken, und so, als könne er mit der Kraft seines Blicks das Ungeheure zurücknehmen, versuchte er den Engel zu sehn in der Leere der mattgoldnen Luft, doch er sah nichts andres als Schlußstein und Haken, (...) der Engel war fort, der Engel war Schrott und fuhr morgen vielleicht schon als Ring um Granaten über die Welt, die Völker in neuen Schlachten zerfetzend.“ So malte sich Franz Fühmann in seiner 1963 erschienenen Erzählung „Das schlimme Jahr“ Barlachs Entsetzen aus. Der Landesbischof von Mecklenburg hatte das heikel gewordene Werk 1937 der NSDAP übergeben: „eine Bronzefigur von 250 Kilogramm zum Zwecke der Einschmelzung für die Wehrwirtschaft“, wie die Quittung besagt. Zum Glück hatte sich in Duisburg ein Gipsmodell erhalten, von dem ein Mäzen bereits 1939 einen Zweitguss herstellen ließ. Er hängt seit 1952 in der Kölner Antoniterkirche. Ein Jahr später kehrte auch ein Abguss in den Güstrower Dom zurück. Mittlerweile war Barlach in der DDR zwischen die Fronten der aktuellen Realismus-Formalismus-Debatte geraten. Anlass dafür war eine große Barlach-Ausstellung in der Ostberliner Akademie der Künste 1951. Das „Neue Deutschland“ attackierte Barlach als „rückwärts gewandten Künstler“, der „in den Sumpf des Mystizismus geraten“ und „nicht in die Tiefe der Seele des unterdrückten Menschen gedrungen“ sei. Von dem Bildhauer Gustav Seitz alarmiert trat Bertolt Brecht auf den Plan und verhinderte die drohende Schließung durch seine „Notizen zur Barlach-Ausstellung“ in der Zeitschrift „Sinn und Form“: „Schönheit ohne Beschönigung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebenskraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meisterwerken.“ 42.000 Leute besuchten die Ausstellung. Barlach blieb virulent. 1956 wählte der in Güstrow aufgewachsene Uwe Johnson den Schriftsteller Barlach zum Thema seiner Germanistik-Diplomarbeit ebenso wie der Schweizer Adolf Muschg 1959 für seine Promotion. Seine Romanfigur Gesine Cresspahl lässt Johnson in den „Jahrestagen“ 1953 aus Mecklenburg in den Westen auswandern, mit Abbildungen von Barlachs „Fries der Lauschenden“ im Gepäck.“ Als der erste Teil des Romans 1970 erschien, lebte Johnson selbst schon seit mehr als 10 Jahren im Westen. Franz Fühmanns Erzählung über den „verlorenen Engel“ kam 1970 als DEFA-Film in die DDR-Kinos, wenn auch nur in einer geschnittenen und nachträglich veränderten Fassung: Zu heikel war der dargestellte Konflikt zwischen dem Künstler und den Zugriffen des Staates und der Zensur. Christa Wolf erzählt davon in ihrem Tagebuch, anlässlich eines Güstrow-Besuchs mit dem befreundeten Schriftstellerehepaar Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl im Herbst 1989. Neben dem Dom mit dem Engel und der Gertrudenkapelle besuchen sie auch das Atelierhaus Barlachs am Inselsee: „Dann stehe ich lange vor der Holzskulptur des „Wanderers im Wind“, die Barlach 1934 geschaffen hat, als ihm klar war, was für Zeiten angebrochen waren. (...) So ist es, sagt jede dieser Figuren. Kein Zugeständnis. Klage schon. Aber kein Selbstmitleid. So ist es eben, so schlimm. Und das zu wissen, darin liegt der Trost.“ Das Atelierhaus Barlachs liegt heute wie zu seinen Lebzeiten idyllisch und abgeschieden, in einem kräftigen Fußmarsch aus der Innenstadt zu erreichen, wie Barlach es am liebsten tat. Seit 1998 ergänzt ein zugleich strenger und leichter Galerieneubau das Künstlerhaus. Hier hat der Bildhauer die letzten Jahre seines Lebens, zwischen 1931 und 1938, gearbeitet. Das teure Neubauprojekt stürzte ihn in Schulden, als das Netzwerk seiner Mäzene und Galeristen in der Nazi-Zeit wegbrach. Insgesamt fast 40 Jahre hat Barlach in Güstrow gelebt. Anfangs ab 1910 in einem nicht erhaltenen Wohnhaus nahe dem Schloss in der Plauer Straße, später in der Schweriner Straße. Nur wenige Schritte davon entfernt markiert eine Gedenktafel in der Straße Zu den Wiesen 30 den alten Fachwerk-Pferdestall im Hinterhof, wo von 1911 bis 1927 Barlachs Werkstatt war. In seinen literarischen Werken, wie dem Schlusskapitel des Romans „Seespeck“ und dem autobiographischen Roman „Der gestohlene Mond“ verarbeitet Barlach seine Güstrower Erfahrungen. Beide Romane blieben unvollendet in der Schublade, und vielleicht wäre der Schriftsteller Barlach seinen Zeitgenossen weitgehend unbekannt geblieben, hätte nicht ein kongenialer Verleger und Galerist ihn zur Veröffentlichung gedrängt: Paul Cassirer. 1907 wurde er in einer Berliner Secessionsausstellung auf den Bildhauer aufmerksam und verschaffte ihm ein festes Jahreseinkommen und einen Exklusivvertrag für seine gesamte bildhauerische und bald auch graphische Produktion. 1912 erscheint Barlachs erstes Drama „Der tote Tag“ - mit großformatigen Lithographien vom Autor selbst gezeichnet. Ein Privileg des Doppeltbegabten und ein Glücksfall für den Verleger, der sich mit aufwändigen Künstlermappen und illustrierten Büchern von modernen Künstlern wie Liebermann oder Slevogt profilierte. Weitere sechs Dramen Barlachs kamen im Laufe der Jahre in seinem Verlag heraus. Den größten Bühnenerfolg erzielt er mit dem „Blauen Boll“, uraufgeführt 1926 im Landestheater Stuttgart. Zeichnen, Schreiben und plastisches Arbeiten gingen bei Barlach Hand in Hand. Sein Ziel war: „schlecht und recht Künstler zu sein“. Schwer genug für einen, der seinen Weg unabhängig von herrschenden Strömungen suchte. Die aktuellen Debatten um die abstrakte Kunst interessierten ihn nicht: „Meine künstlerische Muttersprache ist nun mal die menschliche Figur“, sagte er nach einem abschätzigen Blick in Kandinskys Schrift „Über das Geistige in der Kunst“. Der kubistische Picasso war für ihn „ein ornamentaler Absolutist“. Wer Barlach heute kennenlernen will, sollte nach Güstrow fahren. Oder nach Wedel in sein Geburtshaus. Oder nach Ratzeburg in das Vaterhaus seiner Kindheit. Die bedeutendste Sammlung seiner Skulpturen besitzt das Ernst-Barlach-Haus der Reemtsma-Stiftung in Hamburg. An allen wichtigen Lebensstationen erinnern monographische Museen an den Bildhauer, eine Dichte wie bei keinem anderen deutschen Künstler. Oder man macht es wie Barlachs „Lesender Klosterschüler“ und vertraut sich den Büchern an: Barlachs eigenen und denen über ihn. Denn wie ein Stein, ins Wasser geworfen, zieht Barlachs Werk Kreise in der Literatur. Zuerst erschienen in: literaturblatt für baden-württemberg, H. 1/2007 www.ernst-barlach-stiftung.de © für den Text: Elke Linda Buchholz. Fotos: Michael Bienert und Elke Linda Buchholz. |
Michael Bienert
Elke Linda Buchholz Stille
Winkel in
Potsdam Ellert & Richter Verlag Hamburg 2009 ISBN: 978-3-8319-0348-1 128 Seiten mit 23 Abbildungen und Karte Format: 12 x 20 cm; Hardcover mit Schutzumschlag Preis: 12.95 EUR |
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