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THEATERKRITIK


Freedom And Democracy - I Hate You von Mark Ravenhill. Premiere am Berliner Ensemble am 29. September 2010. Mit Ursula Höpfner-Tabori, Friederike Kammer, Corinna Kirchhoff, Christian Grashof, Martin Seifert u. a. - Regie: Claus Peymann


Der verlorene Kopf


von Michael Bienert


Der Einsatz an der Heimatfront zerrt an den Nerven. In der Morgendämmerung klopfen die beiden Soldaten, ein rundlicher Mann und eine blutjunge Frau, an eine Wohnungstür, um ein paar vorgeschriebene Sätze aufzusagen: „Es ist unsere traurige Pflicht, Sie davon zu informieren, dass Ihr Sohn gefallen ist. Er war ein hochgeschätztes Mitglied seines Regiments und starb, wie er lebte, für eine gerechte Sache. Unser Land, unsere Regierung, Freiheit und Demokratie werden immer in seiner Schuld stehen für dieses Opfer.“

Die aus dem Schlaf geschreckte Miss Haley ist schon so wach, dass sie die beiden Uniformierten nicht ausreden lässt. Im lila Morgenrock quasselt sie die beiden voll. Sie sei „faul wie Scheiße“, die Ärzte würden das klinische Depression nennen, aber eigentlich brauche sie nur jemanden, „der mir in den Arsch tritt.“ Neben dem Plüschsessel vor der Glotze steht ein überquellender Aschenbecher. Der jungen Soldatin steckt Misses Haley eine Zigarette in den Mund, um sie am Sprechen zu hindern: „Ist besser als eine Landmine, Süße.“

Die vulgäre Person weiß ja längst, was der nächtliche Besuch zu bedeuten hat. Sie hat mehr Mitleid mit den überforderten beiden Soldaten als mit sich selbst. Hinter der geschwätzigen Hyperaktivität ihrer Figur lässt die Schauspielerin Swetlana Schönfeld ein riesiges  Mutterherz pochen. Ihr Beinahe-Monolog ist einer der Momente, in denen man als Zuschauer hofft, das politische Theater am Berliner Ensemble sei vielleicht doch noch nicht mausetot.

Wenn dort ein Dramolett mit dem Titel „Die Mutter“ aufgeführt und dieser Titel dann auch noch groß auf die Rückwand der kargen weißen Stufenbühne von Johannes Schütz projiziert wird, dann provoziert das unausweichlich den Vergleich mit Brecht. In dessen Lehrstück „Die Mutter“ mutiert eine bis dahin unpolitische Arbeiterfrau, deren Sohn bei einer Demonstration erschossen wurde, zur Fahnenträgerin der Revolution. Die Mutter in Mark Ravenhills gleichnamigen Dramolett bleibt hingegen völlig isoliert. Ihre Tragödie spielt sich im privaten Raum ab. Das Theater holt sie dorthin zurück, wo sie hingehört, in den öffentlichen Raum. Denn wenn Mütter ihre Söhne für einen Krieg opfern müssen, ist das immer ein Politikum.

Brecht hatte die Idee, solche Vorgänge in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu zeigen, um die Zuschauer zum Nachdenken anzuregen. Er wusste allerdings auch, wie schnell ein Publikum sich langweilen oder vor den Kopf gestoßen fühlen kann. Es braucht enormes Fingerspitzengefühl, Leute für etwas zu interessieren, was sie lieber nicht sehen wollen. Im Berliner Ensemble wird dieser Balanceakt zur Schlingerpartie, weil der Hausherrn und Regisseur Claus Peymann sich immer schwerer damit tut, das Zumutbare vom Umzumutbaren zu unterscheiden. Und auch weil die elf zeitkritischen Dramolette von Ravenhill, die unter dem Obertitel „Freedom and Democracy – I Hate You“ dargeboten werden, von sehr verschiedener Qualität sind.

Durchweg nervtötend, langatmig und albern wirken die Chorszenen. Mit einer von Terroranschlägen hysterisierten Frauenversammlung („Die Troerinnen“) geht es los. „Wir sind die Guten!“, rufen die Frauen in den Zuschauerraum, wo offenbar die Übeltäter sitzen sollen. Solche Selbstüberheblichkeiten gehören gewiss zur Ideologie der westlichen Demokratien, aber hier wird bloß absurdes, nein abstruses Theater daraus. Zweifellos satirisch gemeint ist die letzte Chorszene („Birth of a Nation“): Vier schräge Kunstvermittler stehen an der Rampe und laden die Bevölkerung eines zerbombten Landes zur Selbstheilung in Mal- und Tanzworkshops ein. Leider wird dieser böse Künstlerwitz breit und platt getreten, dabei hätte sich der Regisseur bloß an den englischen Originaltitel des Stückzyklus erinnern müssen: „Shoot / Get Treasure / Repeat“, so lautet die Kurzanleitung für ein Videospiel. Politisches Theater muss auch blitzschnell aus der Hüfte schießen können.

Peymanns Inszenierung ist ein schwerer Panzer, der das Interesse daran rücksichtslos überrollt. Ein durchgeknallter US-Soldat (Felix Tittel) schneidet einer irakischen Witwe (Ursula Höpfner-Tabori) beim Verhör die Zunge heraus, eine Terrorverdächtige wird von zwei britischen Geheimdienstleuten nachts mit dem Hammer traktiert. Naturalistisches  Agitationstheater von der plattesten Sorte ist das. Zum Wegschauen, nicht wegen seiner Grausamkeit, sondern wegen seiner Phantasielosigkeit.

Schauspielerisch reizvoller sind die Psychogramme von Mitbürgern, die sich trotz Kriegsnachrichten und Terrordrohungen  an ihre kleine heile Welt klammern: Corinna Kirchhoff als Ehefrau der oberen Mittelklasse beim Müslifrühstück, Friedrike Kammer als erschrockene Nachbarin einer Terrorverdächtigen, Martin Seifert und Christian Grashof als altes Schwulenpaar. Oder Harald Windisch und Katharina Susewind als Eheleute, die in ein hermetisch gesichertes Wohngebiet umziehen wollen, weil ihr Kind (Anna Graenzer) von Alpträumen gequält wird. Jede Nacht taucht ein gruseliger Soldat ohne Kopf (Veit Schubert) am Kinderbett auf.

Genau wie dieses Schreckgespenst wirkt das politische Theater an diesem Abend. Die Brecht-und-Peymann-Bühne betritt es blutverschmiert in rasselnder Rüstung. Aber wo kein Kopf ist, da ist auch keine Rettung.

Erstdruck: STUTTGARTER ZEITUNG vom 4. Oktober 2010

Zum Spielplan: www.berliner-ensemble.de


© Text und Foto: Michael Bienert
















 










Michael Bienert
Mit Brecht durch Berlin
Insel Verlag it 2169
272 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
ISBN 3-456-33869-1
10 Euro







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