Deserteure
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Ein in allen Armeen existierendes Delikt: Die Fahnenflucht
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Denkmal "Dem unbekannten Deserteur", Potsdam 2004

Die Auseinandersetzung mit diesem Thema "krankt" am Mangel an Information. Besonders wenn DDR-Geschichte "aufgearbeitet", sprich abgerechnet wird, fehlt meist der Vergleich, die Maßstäbe / Relation. Mir seien daher zwei Exkurse gestattet:

Exkurs Bundeswehr:
Hinsichtlich der Bundeswehr, die bereits 1955 als Wehrpflichtarmee geschaffen wurde, fehlen offizielle Angaben zur Desertion. Wie tabuisiert das Thema noch heute ist, zeigt u.a. die Bundestagsdrucksache 14/5857 vom 03. April 2001, wo selbst den Parlamentariern die Antwort verweigert wird: "Es liegen keine Erkenntnisse darüber vor, wie viele Strafanzeigen wegen eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht in den Jahren 1994 bis 2000 gestellt wurden."

Die BRD gab im Jahre 1960 die Zahl der "seit dem Bestehen der Bundeswehr"  bis Juli 1960 desertierten Soldaten lediglich mit "180" an. Viele Angaben wurden tatsächlich nur durch die Systemauseinandersetzung publik. So spielten Anfang der 1960er in der Sendung des DDR-Fernsehens "Eins zu Null" zwei Fußballmannschaften gegeneinander, deren 22 Spieler und 3 Schiedsrichter samt und sonders Angehörige der Bundeswehr waren, die innerhalb einer Woche in die DDR gekommen waren. Zwischen 1960 und 1965 wird heutzutage die Zahl der in osteuropäische Staaten, vor allem und nahe liegend in die DDR, geflüchteten Bundeswehrsoldaten mit jährlich ca. 100 angegeben. Im Jahr 1962 waren es 132 Bundeswehrsoldaten, 1967 noch 79 und 1969 insgesamt 51, 1970 waren es ca. 50 Deserteure. Und das, obwohl die Wehrpflichtigen der Bundeswehr vor ihrer Einberufung die Möglichkeit hatten, sich weitgehend unkompliziert und fast legal nach Westberlin abzusetzen und sich so der Wehrpflicht zu entziehen. Insgesamt entzogen sich auf diese Weise über 50.000 junge Männer dem Dienst in der Bundeswehr.

Im Zusammenhang mit den "Studentenunruhen" werden für das Jahr 1968 für die Bundeswehr 3.614 Fälle an eigenmächtiger Abwesenheit und Fahnenflucht und 1972 bereits 12.643 Fälle angegeben. Auf die Zahl der einberufenen Wehrpflichtigen bezogen, seien das enorme 1,3 bzw. 4,4 Prozent gewesen. Noch für die 80er Jahre werden über 50 Fahnenflüchtige pro Jahr geschätzt. Soweit die Bundeswehr den Deserteuren habhaft wird, werden diese vor Gericht gestellt. In über der Hälfte der Fälle wurden sie zu einer Haftstrafe zwischen 6 und 12 Monaten Freiheitsentzug verurteilt.

Exkurs Republikflucht:
Aufgrund der besonderen politischen Umstände, waren viele Fahnenfluchten aus den Reihen der NVA auch (versuchte) Republikfluchten. So wurden allein 1965 durch die Grenztruppen der DDR ca. 500.000 Flugblätter sowie 954 Kontaktaufnahmen durch den Bundesgrenzschutz der BRD registriert. Bei den Kontaktaufnahmen wurden die DDR-Grenzer 194mal explizit zur Fahnenflucht aufgefordert. Beinah alle Fahnenflüchtigen erhielten in der BRD den Status "politischer Flüchtling". Sie wurden nach gelungenen Absetzen in den Westen von den dort aktiven Geheimdiensten in den "Notaufnahmelagern" ausgefragt und weiter unterstützt, u.a. von der bundesstaatlichen "Deutschen Gesellschaft für Sozialbeziehungen e.V." (DGfSB) aus Duisdorf bei Bonn. Zwischen 1963 und 1990 wurden von der DGfSB insgesamt 2.231 Personen betreut, darunter 63 Offiziere, 532 Unteroffiziere, 1.469 Mannschaften, 77 Angehörige der Polizei und des Zolls sowie 90 Zivilpersonen ... eine einmalig positive Situation für Deserteure.

Auf dem Territorium der späteren DDR lebten 1939 insg.16,7 Millionen Menschen. Infolge der Kriegs- und Nachkriegswirren stieg ihre Zahl auf ca.18,4 Millionen an. Von der Gründung der DDR im Oktober 1949 bis zur Grenzöffnung am 9. November 1989 verließen von den durchschnittlich 17 Millionen Einwohnern statistisch rd. 75.000 jährlich (insg. 3 Millionen Menschen) ihren Staat, davon viele illegal. Im Jahr 1980 lebten wieder 16,7 Millionen Menschen in diesem Gebiet. Aufgrund der rd. 550.000 Übersiedler aus der BRD in die DDR, hatte diese einen Wanderungsverlust von 2,5 Mio. Menschen im Saldo und innerhalb von 40 Jahren zu verzeichnen. Während sich in den Anfangsjahren voranging die Umsiedler aus den ehemaligen Ostgebieten über ganz Deutschland verteilten und enteignete Großgrundbesitzer und Fabrikanten in den Westen absetzten, waren es später die in der DDR gut ausgebildeten Fachkräfte, wie Facharbeiter und Ärzte, welche sich eine bessere wirtschaftliche Lage in Westdeutschland erhofften.

Im Übrigen, zwischen "1989 und 2003 sind fast 3,2 Millionen Menschen von Ost- nach Westdeutschland gezogen. In umgekehrter Richtung sind es nur 1,7 Millionen" (zwda.de). Die BRD als Staat verließen zwischen 1949 und 1989 weit über 2,4 Millionen Menschen, eine Zahl, die sich nach 1989 enorm erhöhte. So verließen allein im Jahr 2003 insg. 127.000 Menschen die BRD auf Dauer. Allerdings betrieb die BRD bis Anfang der 90er eine massive Anwerbepolitik für sog. Gastarbeiter und "Spätaussiedler", damit erzielte sie ein positives Wanderungssaldo.

NVA-Fahnenflüchtige
Unterschieden wurde zwischen "Fahnenflucht" und "unerlaubte Entfernung". Der Unterschied bestand im subjektiven Tatbestand der Absicht sich dauerhaft dem Wehrdienst zu entziehen. Der § 254 StGB sah für den einfachen Fall der Fahnenflucht eine Strafe von ein bis sechs Jahren und im schweren Fall von zwei bis zehn Jahren vor. Eine unerlaubte Entfernung lag gemäß § 255 StGB bei einem Fernbleiben von der Truppe über 24 Stunden vor und wurde mit Strafen zwischen Strafarrest bis 3 Jahre Freiheitsentzug geahndet.

Für das Jahr 1956 wurden für die KVP bzw. NVA insgesamt 233 Fahnenfluchten, davon 13 Offiziere registriert. Weiterhin gab es 559 unerlaubte Entfernungen.

Das Jahr 1961 war ein politisches Krisenjahr in Europa, das äußerte sich auch in einem Anstieg der Republikfluchten nach Westdeutschland bzw. Westberlin. Diese Situation spiegelte sich ebenfalls in den bewaffneten Organe der DDR wider. Allein im 1. Halbjahr 1961 gab es aus den Reihen der NVA 76 Fahnenflüchtige, wovon 29 festgenommen werden konnten. Unter den Fahnenflüchtigen waren auch 6 Offiziere. Hinzuzurechnen sind noch 104 Fahnenflüchtige der Deutschen Grenzpolizei, davon ein Offizier. Aufgrund der Besonderheit des Grenzdienstes wurden lediglich 8 dieser Deserteure festgenommen. In der zweiten Hälfte des Jahres stieg die Anzahl der Fahnenfluchten weiter an, insbesondere unmittelbar nach Sicherung der Staatsgrenze am 13. August 1961. Leider liegen mir für das Gesamtjahr keine seriösen Zahlen vor, da in der vorliegenden bundesdeutschen Angabe von 454 Fahnenflüchtigen, neben Schutzpolizisten, selbst Zivilangestellte der NVA mit eingerechnet wurden. Auch ein Hinweis auf republikflüchtige Reservisten fehlt nicht. Aufgrund der verschiedenen Zahlen schätze ich für das Krisenjahr 1961 die fahnenflüchtigen Angehörigen der NVA und Grenzpolizei auf ca. 350 Mann.

Im Frühjahr 1962 registrierten die zuständigen BRD-Behörden, daß 36 Prozent der Fahnenflüchtigen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Dies geschah trotz der Gewißheit, wegen ihrer Straftat(en) verurteilt zu werden. Durch intensive "Betreuung" und finanzielle Unterstützung der o.g. DGfSB sank später die Rückkehrerquote auf ca. 6 Prozent.

Die Möglichkeiten potentieller Deserteure sich tatsächlich dauerhaft dem Wehrdienst zu entziehen, verringerten sich mit Sicherung der Staatsgrenze deutlich. Die Anzahl der Fahnenflüchtigen blieb - trotz Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1962 - in etwa konstant. So desertierten im Jahr 1967 - nunmehr einschließlich Grenztruppen - 126 NVA-Angehörige (davon 3 Offiziere) in die BRD bzw. Westberlin, weitere 108 Deserteure wurden durch DDR-Organe festgenommen.

In den folgenden Jahren sank - mit der Festigung der DDR-Gesellschaft - auch die Zahl der Deserteure deutlich, so daß in den 70er und 80er Jahren ihre Zahl bei weit unter 100 Personen pro Jahr lag. Im Jahr 1974 wurde mit 24 gelungenen Fahnenfluchten (= Republikflucht) der letzte Höchststand registriert.

Fahnenfluchten im Detail:
Kalenderjahr 1983 1984 1985 1986 1987 1988
versuchte 48 36 30 43 38 39
gelungene 14 11 9 14 20 17

Im Jahr 1987 waren beispielsweise von den 20 Tätern - der ins westliche Ausland erfolgten Fahnenfluchten - 17 Angehörige der Grenztruppen und 3 der NVA. Die Fahnenflüchtigen strukturierten sich wie folgt: 1 Offizier (gelungen), 2 Offiziersschüler (keine gelungen), 1 Berufsunteroffizier (nicht gelungen), 11 Unteroffiziere auf Zeit (3 gelungen) sowie 23 Grundwehrdienstleistende (16 gelungen). Es gab dabei 3 Gruppenfahnenfluchten mit je 2 Angehörigen der Grenztruppen, davon 2 im Grenzdienst und einer von der Objektwache. Unter den Fahnenflüchtigen war im Jahr 1987 auch ein Bobsportler (Oberfeldwebel ASK / MfNV), der nach einem Wettkampf in der BRD blieb. Zwei Täter setzten bei der Tatausführung Waffen ein. Dabei wurde eine Zivilperson erschossen bzw. eine Geiselnahme in einem NVA-Objekt der 8. Motschützendivision / Militärbezirk V) durchgeführt. Insgesamt 6 Fahnenflüchtige wurden auf dem Territorium der CSSR bzw. der Ungarischen Volksrepublik sowie an einer GÜSt. DDR / CSSR festgenommen. Bei insgesamt 4 Festgenommenen bestand die Absicht, Botschaften der BRD oder Österreichs bzw. die Ständige Vertretung der BRD in der DDR aufzusuchen. Mitunter begaben sich Armeeangehörige in Erwartung einer Unterstützung bei der Realisierung ihrer Fahnenflucht in die Militärverbindungsmission der USA in Potsdam. Diese Fahnenflüchtigen wurden der Sowjetarmee und dadurch den DDR-Organen übergeben. Im Jahr 1988 betraf das einen Fahnenflüchtigen.

Es kam weiterhin zu spontanen Fahnenfluchten mit anschließender Rückkehr, wie jener im Jahr 1988: Zwei Angehörige der Volksmarine hatten sich unter Alkoholeinfluß stehend spontan zur Fahnenflucht entschlossen. Sie gelangten von Saßnitz aus, an der Außenbordwand eines schwedischen Fährschiffes angegurtet, nach Schweden. Beide kehrten nach 4wöchigem Aufenthalt im westlichen Ausland unabhängig voneinander in die DDR zurück. Nach ihrer Fahnenflucht waren zunächst durch Dienststellen der schwedischen Polizei und des BGS der BRD zur Person und den Umständen ihrer Fahnenflucht befragt worden. Weitere Befragungen erfolgten in Neustadt / BRD durch Mitarbeiter des BGS sowie des BND in Hamburg zu militärischen Fragen, wie Stärke, Struktur, Personalbestand, sowie Gebäude und Militärtechnik der Volksmarine in Saßnitz. In der Zentralen Aufnahmestelle Gießen erhielten sie Kontakt zum Bundesamt für Verfassungsschutz und zur o.g. DGfSB.

Für die Jahre zwischen 1969 und 1989 werden nunmehr 1.710 Fahnenflüchtige und 1.623 "unerlaubte Entfernungen" angegeben. Die Motive für Fahnenfluchten waren hauptsächlich von Konflikterlebnissen im persönlichen und familiären Bereich geprägt. Vereinzelt war der Verrat auch von feindlichen politischen Positionen bestimmt. Bestandteil der Fluchtmotivation waren Dienstunlust und die Ablehnung des Wehrdienstes.

In der Krisenzeit 1989/90 stieg die Deliktzahl wieder sprunghaft an. Zwischen Dezember 1989 und Ende April 1990 hatte die NVA ca. 1.350 Fahnenflüchtige, darunter 57 Offiziere, zu verkraften. Das war knapp 1 Prozent der noch vorhandenen Truppenstärke.

In der DDR gefaßte Deserteure wurden bis Ende 1989 von Militärgerichten verurteilt. Die Strafe soll regelmäßig zwischen eins bis zwei Jahren Freiheitsentzug gelegen haben. In den Jahren 1986 bis 1989 wurde von NVA-Militärgerichten gegen 296 "einfache" Fahnenflüchtige und Soldaten mit "unerlaubter Entfernung" (soweit nicht von ihren Kommandeuren zu Strafarrest verurteilt) verhandelt. Nach dem 19. Januar 1990 wurden Fahnenfluchten nicht mehr strafrechtlich verfolgt und alle Verfahren, die vor dem 19. Januar 1990 begonnen hatte wurden eingestellt.

Literatur,
unter Verwendung des rechts abgebildeten Buches "Armeen und ihre Deserteure" von Bröckling/Sikore (Hg.), eines Diskussionsthreads im NVA-Forum - Dank an ZAIG -, einem Kabinettsprotokoll sowie des Buches von Bruno Winzer "Soldat in drei Armeen".

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Militärflugplätze der NVA