Der älteste, größte, wichtigste und pressefreundlichste der vier von uns besuchten Filmmärkte ist die MIFED in Mailand. Hier sind auf einem Messegelände von 12000 m² beinahe 300 Firmen mit weit über 400 Filmen aus allen nur erdenklichen Genres und Budgetbereichen zu finden, auch wenn kleinere Produktionsfirmen über die hohen Gebühren stöhnen. Mehr als die Hälfte der Firmen sind aus den USA eingeflogen, die zusammen "nur" ein Drittel der Filme vorstellen. In Relation zur Wirklichkeit der weltweiten Kino-Repräsentation günstige Zahlen für die internationale Filmindustrie. Auf die meistgestellte Industriefrage des Jahres 1997 nach der Zukunft des Hongkong-Films lässt sich im Zuge der MIFED optimistisch spekulieren: Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl der Firmen der ehemaligen britischen Kolonie um 60% auf 19 angestiegen und hat sich damit nach Italien und Großbritannien auf den vierten Platz katapultiert.
Die Qual der Wahl, sich unter 28 gleichzeitig laufenden Filmen entscheiden zu müssen, wurde dieses Jahr leider dadurch intensiviert, dass die letzten beiden Vorführtermine gestrichen wurden, womit die Ausbeute auf eine Runde 30 sank. Die Zahl der durchschnittlich angeschauten Filme dürfte dennoch unter den Regeln eines Marktes um ein Vielfaches höher liegen, ähneln die Vorführräume doch eher der Telefonhalle eines Bahnhofs: Niemand scheint einen Film länger als 15 Minuten zu sehen, aber alle erhalten in dieser Zeit mindestens einen Anruf. Wer sich dieses Statussymbols beraubt fühlt, kann sich hier im Gegensatz zu Festivals, die sich zunehmend auf die Jagd nach den sadistischen Piepern begeben, im Servicecenter sogar ein Handy ausleihen. Die Alptraumvorführbedingungen einer jeden RegisseurIn wurden etwas ausgeglichen, indem inzwischen alle Kinoräume mit dem Dolbysystem ausgestattet wurden, die zwei größten Säle auch mit einem digitalen. Viele Vorführungen hatten dies Jahr allerdings noch heftig mit dem Ton zu kämpfen, begleitete ein fast ständiges, kopfschmerzförderndes Knattern zu viele Filme.
Seitdem
1992 Philadelphia mit seiner Oscar- und Kassenausbeute für
einen mittelschweren Ansturm auf Homofilme sorgte, fragte sich die westliche
Welt, ob damit ein permanenter Wechsel zugunsten einer besseren Sichtbarkeit
von Lesben und Schwulen im Film eingetreten sei, oder ob lediglich ein
ebenso schnell wieder ablegbares Modethema entdeckt wurde. Fünf Jahre
später lässt sich eine erste Bilanz ziehen. Jede Hollywood-Großproduktion
um schwule Themen wurde kassenträchtig, von The Birdcage
über To Wong Foo, Thanks for Everything! Julie Newmar
bis hin zum aktuellen In
& Out. Und das, obwohl es sich um ein offizielles, bzw.
inoffizielles Remake bereits erfolgreicher Filme handelte (La cage
aux folles, bzw. Priscilla, Königin der Wüste)
oder im Falle In &
Outs herb aus den zuvorgenannten geklaut wurde. Lesbische Pendants
lassen zwar bisher auf sich warten, dementsprechende gutgemeinte Nebenrollen
können das Blockbusterstreben von Filmen wie Der Club der Teufelinnen
aber auch nicht aufhalten. Der Erfolg von Die
Hochzeit meines besten Freundes schließlich führte
nicht etwa zu weiteren gemeinsamen Filmen zwischen den beiden Hauptrollen
tragenden SchauspielerInnen Julia Roberts und Dermot Mulroney,
sondern Roberts und dem schwulen Nebenrollendarsteller Rupert Everett,
der in den nächsten drei Produktionen ebenfalls schwul sein darf und
neuerdings auch will. Andere Länder zogen nach. Frankreich feierte
Erfolge mit Eine Frau für zwei und Auch Männer
mögens heiß, Großbritannien mit Der
Priester und in Deutschland muss eine Komödie seit Der
bewegte Mann anscheinend mindestens eine tragende schwule Rolle
vorweisen, um Geld einzuspielen. Die Zahl der schwulen und in gewissem
Maße auch lesbischen Independent Filme, die tatsächlich ein
entsprechendes Publikum ansprechen, ist geradezu explodiert, wenn auch
die nationalen Verleihgrenzen bisher leider kaum überschritten werden.
Noch nicht als Trend, mehr als kuriosen Zufall wollen wir bewerten, dass nicht nur im französischen Die Schwächen der Frauen die lesbische, beste ex-Junkie Freundin einer Hetera deren Tochter von den Drogen abbringen will, indem sie ihr ersteinmal welche verabreicht, sondern dass auch im spanisch-argentinischen Martín (Hache) der schwule, beste Junkie Freund eines Heteros selbiges mit dessen Sohn veranstaltet.
Wobei wir beim nächsten Trend wären: Drogen. Dies gehört
nicht zu unseren spezialisierten Themen, darf also somit als Zufall mit
Allgemeingültigkeit für alle neuen Filme betrachtet werden. Alle
nehmen sie Drogen, und zwar in jedem zweiten Film: MusikerInnen, Eltern,
deren Kinder, alte Kauze, Lesben, Schwule, Heteros. Allein vom täglich
5-stündigen Beschau des Drogenkonsums auf der Leinwand fühle
ich mich nach der diesjährigen MIFED wie ein Junkie kurz vorm goldenen
Schuss. In der Tat, wenn ich all das zu mir nehmen würde, was da so
an Heroin, Koks, Hasch, Pillen und Alkohol reingepfiffen wird, wäre
ich dauerhigh bis zur nächsten MIFED. Besonders unschön schneidet
die Suche nach neuen Rauschkicks ab, wenn sie bei Substanzen endet, die
eigentlich Hunde auf andere, nämlich weniger Gedanken bringen soll.
Denn hier endet diese Suche meistens dauerhaft (illtown,
Martín (Hache)).
Einen weiteren Aufschwung erlebt die weite Welt der Prostitution, die
sich auf ein Drittel aller von Queer View gesichteten Filme ausgeweitet
hat. Ob als Komödie um die perversen Triebe Hollywoods (The
Treat), was nun endgültig einen eigenen Artikel wert ist,
in der Form des Pornogeschäfts (Boogie
Nights) oder des Vortäuschens von Beziehungswillen (The
Well), zum Anschaffen für Drogen (illtown),
als hochbezahlte, einmalige Befruchtungssession (Wunsch
und Wirklichkeit), als historisches Hindernis in Liebesgeschichten
(Chinese Box),
zur gelegentlichen Aufbesserung der Haushaltskasse (The
Hanging Garden) oder als nackte Überlebensstrategie (Bent),
jeder scheint ihre / seine Gründe zu haben, sich auf ungewollten Sex
und andere Hingaben einzulassen. Allerdings reißt die Reihe der Transen
auf dem Strich mit der diesjährigen MIFED hoffentlich nicht nur vorübergehend
abrupt ab. Andere Transenfilme gab es allerdings auch nicht.
Ebenfalls keine Geschichten wurden dieses Jahr von missbrauchten Kindern
erzählt, die diese Erfahrungen überleben müssen. Versucht
und fälschlich verdächtigt wird dies allerdings in Lawn
Dogs. Auch Vergewaltigungen bei Casting Sessions (The
Big Bang Theory), von Lovern (Die
Schwächen der Frauen) und Mitfahrgelegenheiten (Without
Air) werden erfolgreich, wenn auch mehr oder weniger traumatisch,
abgewährt. Mit unschönen Enthüllungen müssen gleich
zwei junge Männer fertigwerden, denen offenbart wird, in Wirklichkeit
die Väter ihrer noch jüngeren Geschwister zu sein (Little
Boy Blue, The
Hanging Garden).
Abschließend sei für unsere MystikfreundInnen noch erwähnt, dass die 90er Akzeptanz des Magischen Realismus kein Ende findet, sei es in Form des üblichen special effect geladenen Endes (Lawn Dogs) oder gar der gesamten Struktur eines ansonsten "seriösen" Familiendramas (The Hanging Garden).
Offizieller Link: http://www.fmd.it/mifed/