MIFED '97
64th Cinema and Television International Multimedia Market
Mailand 19.-24. Oktober

Der älteste, größte, wichtigste und pressefreundlichste der vier von uns besuchten Filmmärkte ist die MIFED in Mailand. Hier sind auf einem Messegelände von 12000 m² beinahe 300 Firmen mit weit über 400 Filmen aus allen nur erdenklichen Genres und Budgetbereichen zu finden, auch wenn kleinere Produktionsfirmen über die hohen Gebühren stöhnen. Mehr als die Hälfte der Firmen sind aus den USA eingeflogen, die zusammen "nur" ein Drittel der Filme vorstellen. In Relation zur Wirklichkeit der weltweiten Kino-Repräsentation günstige Zahlen für die internationale Filmindustrie. Auf die meistgestellte Industriefrage des Jahres 1997 nach der Zukunft des Hongkong-Films lässt sich im Zuge der MIFED optimistisch spekulieren: Im Vergleich zum Vorjahr ist die Anzahl der Firmen der ehemaligen britischen Kolonie um 60% auf 19 angestiegen und hat sich damit nach Italien und Großbritannien auf den vierten Platz katapultiert.

Die Qual der Wahl, sich unter 28 gleichzeitig laufenden Filmen entscheiden zu müssen, wurde dieses Jahr leider dadurch intensiviert, dass die letzten beiden Vorführtermine gestrichen wurden, womit die Ausbeute auf eine Runde 30 sank. Die Zahl der durchschnittlich angeschauten Filme dürfte dennoch unter den Regeln eines Marktes um ein Vielfaches höher liegen, ähneln die Vorführräume doch eher der Telefonhalle eines Bahnhofs: Niemand scheint einen Film länger als 15 Minuten zu sehen, aber alle erhalten in dieser Zeit mindestens einen Anruf. Wer sich dieses Statussymbols beraubt fühlt, kann sich hier im Gegensatz zu Festivals, die sich zunehmend auf die Jagd nach den sadistischen Piepern begeben, im Servicecenter sogar ein Handy ausleihen. Die Alptraumvorführbedingungen einer jeden RegisseurIn wurden etwas ausgeglichen, indem inzwischen alle Kinoräume mit dem Dolbysystem ausgestattet wurden, die zwei größten Säle auch mit einem digitalen. Viele Vorführungen hatten dies Jahr allerdings noch heftig mit dem Ton zu kämpfen, begleitete ein fast ständiges, kopfschmerzförderndes Knattern zu viele Filme.

Filmtrends
Eine subjektive Betrachtung der 30 von Queer View ausgewählten Filme unter Außerachtlassung der restlichen 400.
 
Lesben und Schwule

Seitdem 1992 Philadelphia mit seiner Oscar- und Kassenausbeute für einen mittelschweren Ansturm auf Homofilme sorgte, fragte sich die westliche Welt, ob damit ein permanenter Wechsel zugunsten einer besseren Sichtbarkeit von Lesben und Schwulen im Film eingetreten sei, oder ob lediglich ein ebenso schnell wieder ablegbares Modethema entdeckt wurde. Fünf Jahre später lässt sich eine erste Bilanz ziehen. Jede Hollywood-Großproduktion um schwule Themen wurde kassenträchtig, von The Birdcage über To Wong Foo, Thanks for Everything! Julie Newmar bis hin zum aktuellen In & Out. Und das, obwohl es sich um ein offizielles, bzw. inoffizielles Remake bereits erfolgreicher Filme handelte (La cage aux folles, bzw. Priscilla, Königin der Wüste) oder im Falle In & Outs herb aus den zuvorgenannten geklaut wurde. Lesbische Pendants lassen zwar bisher auf sich warten, dementsprechende gutgemeinte Nebenrollen können das Blockbusterstreben von Filmen wie Der Club der Teufelinnen aber auch nicht aufhalten. Der Erfolg von Die Hochzeit meines besten Freundes schließlich führte nicht etwa zu weiteren gemeinsamen Filmen zwischen den beiden Hauptrollen tragenden SchauspielerInnen Julia Roberts und Dermot Mulroney, sondern Roberts und dem schwulen Nebenrollendarsteller Rupert Everett, der in den nächsten drei Produktionen ebenfalls schwul sein darf und neuerdings auch will. Andere Länder zogen nach. Frankreich feierte Erfolge mit Eine Frau für zwei und Auch Männer mögens heiß, Großbritannien mit Der Priester und in Deutschland muss eine Komödie seit Der bewegte Mann anscheinend mindestens eine tragende schwule Rolle vorweisen, um Geld einzuspielen. Die Zahl der schwulen und in gewissem Maße auch lesbischen Independent Filme, die tatsächlich ein entsprechendes Publikum ansprechen, ist geradezu explodiert, wenn auch die nationalen Verleihgrenzen bisher leider kaum überschritten werden.
 

Letzte Gewissheit über eine dauerhaft veränderte Filmlandschaft brachte uns die diesjährige MIFED. Nicht nur die Anzahl der Filme überzeugte uns – ein ganzes Drittel mit schwulen Inhalten, immerhin ein weiteres Sechstel mit lesbischen – sondern auch die Natur der Inhalte, obwohl, bzw. gerade weil keiner der Filme in die special interest Ecke für ein reines Homopublikum passt. So darf ohne sauren Beigeschmack durchaus argumentiert werden, dass die beiden lesbischen Filme The Well und Horsey eben keine solchen sind, und die vier schwulen Filme funktionierten auch in der heterosexuellen Version, d.h. die FilmemacherInnen scheuten sich nicht, stattdessen die schwule Variante zu wählen. Bent handelt von der Bewahrung, bzw. Wiederfindung menschlicher Wärme im Nazi-Konzentrationslager, Love and Death on Long Island vom Erblühen eines isolierten, älteren Menschen dank der Obsession mit einem Leinwandcharakter, Amor de hombre von der Liebeswelt einer Schwulenmutti und The Hanging Garden von der magisch-realistischen Rückkehr in die Familie nach dem eigenen Tod.
 
Die Nebenrollen in den anderen Filmen haben größtenteils ihren Belustigungs- oder Problemflair verloren und wurden dagegen allein an Zeit ausgebaut, allen voran in Martín (Hache) und illtown.
 
Aber zu den Inhalten selbst: Der herkömmliche Coming Out - Film hat endlich ersteinmal abgedankt. Während Hollywoods In & Out in den Ländern außerhalb der USA erst noch starten muss, scheint sich herumgesprochen zu haben, dass es mittlerweile genug philosophische Emanzipationsfilme in der Videothek und der Glotze gibt. Zugegeben, in der Hälfte der lesbisch-schwul relevanten MIFED-Filme sind die entsprechenden Charaktere sich zu Beginn ihrer Sexualität immer noch nicht bewusst, aber die RegisseurInnen gehen mittlerweile sehr verschiedenartig damit um. Nur in einem einzigen Film, The Hanging Garden, wird tiefer auf die Reaktionen der Umwelt des Protagonisten eingegangen. Aber selbst hier nimmt der Film einen einzigartigen Verlauf. Am beiläufigsten, wenn auch in intensiver Form, überrascht Hamam seine unbedarften ZuschauerInnen. Die Schwächen der Frauen schließlich lässt die Frage offen, genau wie lesbisch denn nun der love interest der Lesbe ihr Leben nach dem Abspann neu gestalten wird.

Noch nicht als Trend, mehr als kuriosen Zufall wollen wir bewerten, dass nicht nur im französischen Die Schwächen der Frauen die lesbische, beste ex-Junkie Freundin einer Hetera deren Tochter von den Drogen abbringen will, indem sie ihr ersteinmal welche verabreicht, sondern dass auch im spanisch-argentinischen Martín (Hache) der schwule, beste Junkie Freund eines Heteros selbiges mit dessen Sohn veranstaltet.

Drogen

Wobei wir beim nächsten Trend wären: Drogen. Dies gehört nicht zu unseren spezialisierten Themen, darf also somit als Zufall mit Allgemeingültigkeit für alle neuen Filme betrachtet werden. Alle nehmen sie Drogen, und zwar in jedem zweiten Film: MusikerInnen, Eltern, deren Kinder, alte Kauze, Lesben, Schwule, Heteros. Allein vom täglich 5-stündigen Beschau des Drogenkonsums auf der Leinwand fühle ich mich nach der diesjährigen MIFED wie ein Junkie kurz vorm goldenen Schuss. In der Tat, wenn ich all das zu mir nehmen würde, was da so an Heroin, Koks, Hasch, Pillen und Alkohol reingepfiffen wird, wäre ich dauerhigh bis zur nächsten MIFED. Besonders unschön schneidet die Suche nach neuen Rauschkicks ab, wenn sie bei Substanzen endet, die eigentlich Hunde auf andere, nämlich weniger Gedanken bringen soll. Denn hier endet diese Suche meistens dauerhaft (illtown, Martín (Hache)).
 

Prostitution

Einen weiteren Aufschwung erlebt die weite Welt der Prostitution, die sich auf ein Drittel aller von Queer View gesichteten Filme ausgeweitet hat. Ob als Komödie um die perversen Triebe Hollywoods (The Treat), was nun endgültig einen eigenen Artikel wert ist, in der Form des Pornogeschäfts (Boogie Nights) oder des Vortäuschens von Beziehungswillen (The Well), zum Anschaffen für Drogen (illtown), als hochbezahlte, einmalige Befruchtungssession (Wunsch und Wirklichkeit), als historisches Hindernis in Liebesgeschichten (Chinese Box), zur gelegentlichen Aufbesserung der Haushaltskasse (The Hanging Garden) oder als nackte Überlebensstrategie (Bent), jeder scheint ihre / seine Gründe zu haben, sich auf ungewollten Sex und andere Hingaben einzulassen. Allerdings reißt die Reihe der Transen auf dem Strich mit der diesjährigen MIFED hoffentlich nicht nur vorübergehend abrupt ab. Andere Transenfilme gab es allerdings auch nicht.
 

Sexuelle Gewalttätigkeiten

Ebenfalls keine Geschichten wurden dieses Jahr von missbrauchten Kindern erzählt, die diese Erfahrungen überleben müssen. Versucht und fälschlich verdächtigt wird dies allerdings in Lawn Dogs. Auch Vergewaltigungen bei Casting Sessions (The Big Bang Theory), von Lovern (Die Schwächen der Frauen) und Mitfahrgelegenheiten (Without Air) werden erfolgreich, wenn auch mehr oder weniger traumatisch, abgewährt. Mit unschönen Enthüllungen müssen gleich zwei junge Männer fertigwerden, denen offenbart wird, in Wirklichkeit die Väter ihrer noch jüngeren Geschwister zu sein (Little Boy Blue, The Hanging Garden).
 

Magischer Realismus

Abschließend sei für unsere MystikfreundInnen noch erwähnt, dass die 90er Akzeptanz des Magischen Realismus kein Ende findet, sei es in Form des üblichen special effect geladenen Endes (Lawn Dogs) oder gar der gesamten Struktur eines ansonsten "seriösen" Familiendramas (The Hanging Garden).

ki, Mailand – Berlin
Foto 1: Die Hochzeit meines besten Freundes / © TriStar Pictures
Foto 2: Love and Death on Long Island / © Arsenal Filmverleih
Foto 3: Martín (Hache) / © altafilms
English version

Offizieller Link: http://www.fmd.it/mifed/
 

copyright: Queer View, 25. Oktober 1997