4. Tourismus und Kulturwandel

 

Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich zunächst die wissenschaftliche Tourismusforschung mit einem Schwerpunkt auf Alternativtourismus darstellen, um dann den Begriff des Kulturwandels zu erläutern und den Einfluß des Tourismus auf den kulturellen Wandel der Gastgeberkulturen zu untersuchen.

 

4.1. Tourismusforschung

4.1.1. Die Entwicklung des Tourismus in Europa

Im Gegensatz zu der Faszination des modernen Reisens, welches geprägt ist durch Staunen, Spaß, Sonne etc., war das Reisen in früheren Zeiten beschwerlich, da man sich in einer Weise der Natur ausgesetzt sah, wie wir uns es heute nur noch schwer vorstellen können (Lutz 1993: 203). Mit folgender Schilderung des Apostels Paulus beginnt Norbert Ohler sein Buch "Reisen im Mittelalter": "Ich ertrug mehr Mühsal, war häufiger im Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war oft in Todesgefahr. Fünfmal erhielt ich von Juden die neununddreissig Hiebe; dreimal wurde ich ausgepeitscht, einmal gesteinigt, dreimal erlitt ich Schiffbruch, eine Nacht und einen Tag trieb ich auf hoher See. Ich war oft auf Reisen gefährdet durch Flüsse, gefährdet durch Räuber, gefährdet durch das eigene Volk, gefährdet durch Heiden, gefährdet in der Stadt, gefährdet in der Wüste, gefährdet auf dem Meer, gefährdet durch falsche Brüder. Ich erduldete Mühsal und Plage, durchwachte viele Nächte, ertrug Hunger und Durst, häufiges Fasten, Kälte und Blöße" (ebd.: 203).(1)

Trotz dieser immensen Gefahren, denen man als Reisender zu jener Zeit ausgesetzt war, "waren Millionen von Menschen unterwegs: Pilger und Boten, Kleriker und Studenten, Wanderer und Vagabunden, Bettler und Kranke, Kaufleute, Könige und Päpste..." (ebd.: 203). Da sich nur wenige ein Reittier leisten konnten, war man meist zu Fuß unterwegs. Noch bedeutsamer erschien jedoch das "Urerlebnis der Fremde", welches Ohler folgendermaßen beschreibt: "Schlagartig erfuhr der Reisende, daß er nicht mehr zu den "wir", sondern zu den "anderen" gehöhrte und als solcher möglicherweise kein Recht auf Leben noch auf Unversehrtheit oder Hilfe in der Not hatte" (ebd.: 203).(2)

Trotz extremer Gefahren war das Reisen aber immer schon Bestandteil der Alltagskulturen von Menschen, die im Grunde genommen seit undenklichen Zeiten unterwegs sind (ebd.: 203).

Die Geschichte des "modernen" Reisens beginnt mit den "Abenteuerfahrten" (ebd.: 204) eines Kolumbus, eines Amerigo Vespucci oder Francis Drake, die das mittelalterliche Weltbild zerbröckeln ließen und ungeahnte Räume öffneten. Es wurde hierdurch die rasante Entwicklung der europäischen Gesellschaft eingeleitet, die, angelockt durch sagenhafte Reichtümer, sich zu Beherrschern der Welt aufschwangen, innerhalb weniger Jahre ganze Zivilisationen verschwinden ließen, somit aber auch die Lebensräume und die gewachsenen Kulturlandschaften (ebd.: 204). "Das Elend der Dritt-Welt-Kulturen, das sich heute vielfach im Tourismus manifestiert, begann bereits in jenem Moment, als die Europäer auf der Such nach Reichtum in ihre Räume strömten, die ihre Lebensgrundlage darstellten, und diese dabei zerstörte bzw. sie so formten, wie es den europäischen Vorstellungen von Raum, Ordnung und Kultur entsprach" (ebd.: 204).

Die Entdeckung Amerikas war Wegbereiter für eine neue Form des Reisens, die noch immer das Ideal vieler Tourismusutopien darstellt: Die Bildungsreise. Sie verbindet sich untrennbar mit dem Namen Alexander von Humbolds und seinen Nachfolgern (ebd.: 205). Entdeckung zur Bereicherung des Wissens über die Welt war die Intention. Es ging um den zentralen Gedanken der Aufklärung, daß man durch Ausweitung des Wissens die Vervollkommnung des Menschen vorantreiben könne. "Reisen (sollten)...den Verstand erleuchten...die Sitten...verbessern...den Geschmack verfeinern, ihn zum gesellschaftlichen Leben und allen bürgerlichen Tugenden bilden, von Vorurteilen befreien und ihn im ganzen betrachtet vervollkommnen" (ebd.: 205)(3) schrieben 1776 die Forsters (siehe auch Opaschowski 1989: 62).

"Zu Zeiten der "Grand Tour" Adliger dienten Reisen vordergründig dem tatsächlichen Bildungsbedürfnis zukünftiger Herrscher und Machthaber, die sich Wissen zur eigenen Vervollkommnung aneignen wollten und sollten, wobei sie sich zugleich 'die Hörner abstoßen sollten'" (Lutz 1993: 208). "Um Nutzen aus der Reise ziehen zu können, mußten gebildete Persönlichkeiten aufgesucht und über Sitten und Gesetze des Landes ausgefragt werden. Daneben war es ein legitimes Recht der jungen Leute, auf Reisen das Vergnügen zu genießen und sich zu amüsieren. Sie mußten sogar an allen 'Lustbarkeiten und Festivitäten' teilnehmen, um den Hof 'in seiner größten Splendeur' erleben zu können, und dabei zu lernen, welche Hof-Manieren gefordert werden. Für die Reisenden war es darum selbstverständlich, einen großen Teil ihrer Reisezeit im Ballhaus, auf dem Fechtboden oder in der Reitbahn zu verbringen" (Opaschowski 1989: 56).

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewann das Vergnügungselement dieser Reise an Bedeutung, wobei sich der Charakter der Reise grundlegend änderte: Während zunächst noch das Vertrautwerden mit der fremden Kultur essentiell war, ging es jetzt mehr und mehr nur noch um das Vergnügen (Lutz 1993: 208).

Mit diesem Bedeutungswandel der Reise begann auch die "Zerstörung des Eigenwertes der bereisten Landschaft zugunsten in sie projizierter Vorstellungen" (ebd.: 209). Das Besondere der Landschaft weicht allmählich einem Bild, das der Reisende in sie hineinprojiziert und welches seinem Alltag entspringt, sowie an seinem Vergügungsbedürfnis orientiert ist. Zum gleichen Zeitpunkt jedoch beginnt auch das aufstrebende Bürgertum mobil zu werden. Unter anderem, um den durch die Revolution begründeten neuen sozialen und wirtschaftlichen Status zu legitimieren, werden verstärkt die bisherigen Reiseziele des Adels vom Bürgertum aufgesucht. Hier beginnt durch die Ausweitung eines bisher auf eine kleine gesellschaftliche Gruppe beschränkten Verhaltens, mehr oder weniger eine "Demokratisierung" und "Vermassung" und somit auch Vermarktung des Reisens im großen Stil. Der zweite Effekt ist der, daß nun der Adel bemüht ist sich an andere Orte zu begeben, um sich von den Bürgerlichen abzusetzen. Von nun an ist dies einer der Grundzüge der touristischen Reise: "Diese Bemühung sozialer und räumlicher Abgrenzung gegenüber der jeweils unteren Schicht bestimmen seit den Anfängen die Formen des Tourismus und führen zum zyklischen Wandel der Reiseziele und zur fortwährenden Erschließung neuer unberührter Regionen" (ebd.: 209).

Zum dritten wird die touristische Reise zu einem gesellschaftlichen Wert und einem Lebensstilelement mit normativem Zwang, wobei vermehrt uneingelöste Versprechungen der sich formenden bürgerlichen Gesellschaft nach Freiheit, Natur, Selbstbestimmung oder Vergnügen vorübergehend befriedigt werden können. Der Tourismus formt sich zu einem zentralen Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft und ist aus ihr ohne Gefahr für ihren Bestand nicht mehr wegzudenken (ebd.: 210).

 


1. Zitiert nach: Ohler, N.: Reisen im Mittelalter. München und Zürich 1980. (zurück)

2. Zitiert nach: Ohler, N.: (s.o.) 1980. (zurück)

3. Zitiert nach: Lange, Th.: Idyllische und exotische Sehnsucht. Kronberg 1976, S. 123. (zurück)

 

Inhaltsverzeichnis zurück weiter