5.3. Der Einfluß des Alternativtourismus auf den kulturellen Wandel in San Pedro La Laguna

 

Wie ich in Kapitel 4.2.2 erläutert habe, sind Kulturen immer, bedingt durch exogene oder endogene Faktoren, im Wandel begriffen. Kulturwandel ist gleichzeitig ein komplexer und dynamischer Vorgang, "der auf freiwilligen und erzwungenen Kulturkontakt zurückgeht, durch direkten oder indirekten Kulturkontakt bedingt ist und auch aus indigenen Antrieben gespeist wird." (Kahrmann 1995: 19).(1)

Tourismus führt zu kulturellem Wandel, ist jedoch immer nur ein Faktor von vielen und daher schwierig von anderen Faktoren zu trennen (ebd.: 17). Nach Fischer kann man einige Formen des Wandels überwiegend dem Tourismus zuschreiben. Es sind dies der Demonstrationseffekt, den Touristen ausüben, die Kommerzialisierung bestimmter Kulturbereiche durch die Nachfrage der Touristen und die zunehmende Tätigkeit Einheimischer im Dienstleistungssektor (ebd.: 17).(2)

Auch San Pedro erfuhr, nicht erst seit es von Touristen besucht wird, immer schon die Mechanismen kulturellen Wandels. Dabei gab es immer wieder Zeiten, in denen sich der Wandel intensiver und schneller vollzog als zu anderen Zeiten.

Die einschneidensten und weitreichendsten Veränderungen, denen die Kultur der Tz´utujiles, also auch der Pedranos, in ihrer Geschichte ausgesetzt waren, waren diejenigen, die auf die spanische Eroberung im Jahre 1524 folgten (siehe Kapitel 3.3.).

Weitere wichtige Faktoren kulturellen Wandels, mit denen die Pedranos in diesem Jahrhundert konfrontiert waren, sind:

a. Die Missionstätigkeit protestantischer Sekten

b. Die Einführung der Militärpflicht in Guatemala

c. Der guatemaltekische Bürgerkrieg und die Folgen

d. Die Einführung des Kaffees als Haupterwerbsquelle der Pedranos

e. Die Verbesserung der Transport- und Verkehrsverbindungen

f. Die Einführung und Ausbreitung von Massenmedien in San Pedro

g. Der Alternativtourismus

Da ich einige der genannten Faktoren schon in vorherigen Kapiteln angesprochen habe, und es hier zu weit führen würde, die genauen Folgen jeden einzelnen Faktors in Bezug auf den kulturellen Wandel in San Pedro zu beschreiben (soweit dies überhaupt möglich wäre), möchte ich nun versuchen, die speziellen Auswirkungen des Alternativtourismus auf die Kultur der Pedranos herauszufiltern.

Seit Beginn der 70er Jahre, verstärkt seit Mitte der 80er Jahre, werden die Pedranos, durch die Alternativtouristen in ihrem Ort, mit einem Teilbereich westlich-industrieller Kultur konfrontiert: Den unterschiedlichen Facetten der Jugendkulturen.(3) Anfangs waren es die "Hippies", größtenteils US-amerikanische Jugendliche, die alternative Lebensformen suchten. "Sie sahen den Untergang der zeitgenössischen Industrie-Gesellschaft vorraus und suchten Rettung im Orient, den Rythmen der "Mutter Erde", in mythischen Entrückungen mit Hilfe von Drogen (LSD, Marihuana, Heroin, Mescalin, Kokain), mit Hilfe von alternativen Lehrern (Carlos Castaneda)." (Baacke 1993: 56). Seit der Diversifizierung der Jugendkulturen in den Industriestaaten in den 70er und 80er Jahren, besonders aber 90er Jahren, deckt der Alternativtourismus heute auch in San Pedro das gesamte Spektrum jugendkultureller Szenen ab. So finden sich unter den Alternativtouristen in San Pedro heute nicht mehr nur Hippies, sondern auch Vertreter aller möglicher jugendkultureller Szenen, vom Punk bis zum Technofan.

Es liegt nahe, daß sich der Einfluß dieser Art des Alternativtourismus am Stärksten bei den Jugendlichen in San Pedro bemerkbar macht. Sie werden durch die Touristen mit den unterschiedlichen Ausprägungen der jugendkulturellen Phänomene der Industrienationen, wie den verschiedenen Musikstilen der Rock- und Popmusik, aber auch dem Drogenkonsum, konfrontiert. Dieser Demonstrationseffekt führt bei einigen jungen Pedranos zu einem vermehrten Interesse an Attributen jugendkultureller Ausprägung, ja er hat das Phänomen "Jugend" in San Pedro überhaupt erst geschaffen.

Wie es auch in Deutschland den Begriff des "Jugendlichen" und den Lebensabschnitt der "Jugend" in dem Sinne, wie wir ihn heute verstehen, erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts(4) gibt (Baacke 1993: 201ff), so ist dieses Phänomen in San Pedro noch sehr jung und erst in Ansätzen vorhanden. Bisher war der Übergang vom Kind zum Erwachsenen mehr oder weniger fließend und geschah früher. So ist zum Beispiel der 14. Geburtstag eines Mädchens in San Pedro ein großes Ereignis, da es von nun an in das heiratsfähige Alter eintritt. Die Entwicklung zur Herausbildung einer "Jugend" in San Pedro betrifft bisher allerdings in erster Linie männliche Pedranos.

Der Aussage eines Informanten zufolge, rauchen mittlerweile ca. 90 % aller männlichen, jugendlichen Pedranos gelegentlich Marijuana, oder haben es schon einmal probiert. Auch wenn dies nur die Aussage eines Einzelnen ist und 90 % meiner Einschätzung nach zu hoch gegriffen ist, so drückt dies doch aus, daß sich das Bewußtsein der Jugendlichen gegenüber Marijuanakonsum (und auch anderer jugendkultureller Phänomene), im Vergleich zu den älteren Generationen, die dies nach wie vor als verwerflich betrachten, wesentlich geändert hat.(5) Die sich hieraus ergebenden Spannungen könnten zu einem Generationskonflikt führen, wie er in dem Maße bisher in San Pedro noch nicht bekannt ist.

Auch können, durch einen verstärkten Kontakt zwischen einheimischen Jugendlichen und Alternativtouristen, bei einigen jungen Pedranos Sehnsüchte geweckt werden, die sie sich zumeist nicht erfüllen können. Ein Beispiel dafür ist der Wunsch, selber andere Länder zu bereisen. Schon eine Reise in das Nachbarland Mexiko ist jedoch für einen Guatemalteken mit geringem, oder sogar mit Durchschnittseinkommen so gut wie nicht realisierbar, da schon allein für das Visum hohe Summen bezahlt werden müssen, bzw. der Nachweis des Besitzes einer Kreditkarte erbracht werden muß.

Andere Aspekte des tourismusinduzierten Wandels in San Pedro haben Auswirkungen, die über die Jugendlichen im Ort hinausgehen. Schon angesprochen habe ich, daß sich aufgrund der Reaktionen vieler Touristen auf das Müllproblem in San Pedro, ein vermehrtes Umweltbewußtsein herausbildet, welches jedoch bisher noch keine große Wirkung gezeigt hat. Damit im Zusammenhang steht auch eine Bewußtseinsveränderung in Bezug auf hygienische Standarts. Auch wenn viele der Alternativtouristen in ihren Ansprüchen bezüglich Sauberkeit und Hygiene geringere Anforderungen stellen als der durchschnittliche Pauschal- oder Massentourist, so sind sie doch zumeist andere Standarts gewohnt, als es die meisten Pedranos sind. Eine Anpassung an die von den Touristen geforderten hygienischen Bedingungen, verschafft einer hospedaje oder einem comedor einen direkten Vorteil gegenüber der Konkurrenz, so daß die anderen schnell folgen.

In ähnlicher Weise hat es sich in den letzten Jahren mit dem Speisenangebot der verschiedenen comedores verhalten. Diejenigen comedores, die von Pedranos geführt wurden, boten 1994 zum größten Teil, mehr oder weniger die gleichen Speisen (hauptsächlich Huhn-, Fisch- und Spaghettigerichte) zu den gleichen Preisen an und wurden daher relativ gleichmäßig frequentiert. Sobald jedoch die ersten Langzeittouristen begannen in einzelnen comedores zu kochen oder spezielle Kochrezepte von Speisen einzuführen, die stärker auf den Gaumen der meist europäischen oder nordamerikanischen Touristen zugeschnitten waren, verschob sich die Frequentierung der comedores schnell zugunsten der innovativeren. Die anderen comedores versuchten nun ebenfalls andere Speisen anzubieten, deren Zubereitung sie jedoch erst erlernen mußten. Auf diese Art und Weise entstand ein Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen kleinen Restaurants, der dazu führte, daß 1997 fast überall neben anderen Speisen Pizza angeboten wurde, da dieses Gericht von den meisten Touristen favorisiert wurde. Es fand hier also ein tourismusindizierter Wandel statt, der sich auf das Zubereiten von Speisen bezieht. Ob dieser Wandel sich jedoch auch auf den Speiseplan der Pedranos selbst auswirkt, bleibt abzuwarten, darf aber bezweifelt werden, denn nach wie vor besteht die Haupternährung der Pedranos aus Tortillas und Bohnen.

Insgesamt darf die Bedeutung des Alternativtourismus für den kulturellen Wandel in San Pedro nicht überschätzt werden. Lange Zeit wurde in der Tourismusforschung der Einfluß des Tourismus überbewertet und zu negativ gesehen (Platz 1995: 32). Platz formuliert in seiner Arbeit über den "Tourismus als Faktor des Kulturwandels bei den Lisu in Nordthailand" acht Thesen, "die sich speziell mit dem ethnischen Tourismus beschäftigen" (ebd.: 38). Er weist darauf hin, daß allgemeingültige Aussagen nur bedingt zulässig sind, da die Situation in jedem Land verschieden sein kann und auf die Besonderheiten der einzelnen Ethnie eingegangen werden muß. Ich werde diese Thesen hier in Kurzform darstellen und danach auf die Situation in San Pedro beziehen:

These 1: Tourismus ist ambivalent, d.h. er ist nicht per se positiv oder negativ.

These 2: Signifikante Parameter für einen tourismusinduzierten Wandel sind:

- Die Form des Tourismus,

- Identität, Fremdbild und Reaktion der Bereisten,

- die wirtschaftliche Situation im Gastland,

- die Kontrolle über die touristische Infrastruktur.

These 3: Kultur ist ständig im Wandel, dynamisch und flexibel.

These 4: Der interpersonelle Kontakt, also die direkte Gast-Gastgeber Beziehung, darf nicht überbewertet werden.

These 5: Tourismus ist nur ein Faktor des Wandels, dessen Bedeutung variiert.

These 6: Der Zeitfaktor muß berücksichtigt werden (mehrere Studien über eine längere Zeitspanne hinweg wären nötig).

These 7: Zwischen der Sicht des westlichen Touristen, sowie der des Forschers und der Sicht der Einheimischen besteht nicht

zwingend eine Übereinstimmung.

These 8: Es kann keine universelle Theorie des Tourismus geben, da jede Kultur und die Bedingungen, unter denen sie existiert,

einzigartig sind. Bestimmte Vorgaben, sowie interkulturelle Vergleiche sind weder die

verschiedenen Teilbereiche und Strukturen innerhalb des Tourismus, jedoch zulässig, da in einem holistischen Weltbild

noch die verschiedenen Kulturen voneinander isoliert sind (Platz 1995: 38ff).

Bei dem Versuch den Einfluß des Alternativtourismus auf die sozio-kulturellen Veränderungen in San Pedro zu bewerten, lohnt es sich die These 2 von Platz etwas genauer zu betrachten. Die Form des Tourismus in San Pedro und seine spezifischen Auswirkungen, habe ich bereits geschildert. Platz schreibt: "Badetourismus, der sich in Hotelghettos abspielt, wird beispielsweise andere Auswirkungen als individueller Trekkingtourismus haben. Auch die Aufenthaltsdauer der Gäste kann eine Rolle spielen" (ebd.: 38).

In Bezug auf die Identität einer Ethnie spielt die Stärke ihres Selbstwertgefühles eine Rolle. Je stärker es ist, desto weniger läßt sich die Ethnie von außen beeinflußen (ebd.: 38). Das Selbstwertgefühl einer Ethnie drückt sich unter anderem auch in der Intensität des Zusammenhaltes aus, also eines Wir-Gefühles, das eine Ethnie zur Schau stellt. Wie ich geschildert habe, brachten es die Pedranos fertig, in einer gemeinsamen Aktion die staatliche Polizei und das guatemaltekische Militär dauerhaft aus ihrem Ort zu verteiben. Dies ist ein gutes Beispiel für das ausgepägte Selbstwertgefühl der Pedranos. Beeinflussungen von außen, die zu stark in die Autonomie San Pedros eingreifen, stellen sich die Pedranos also entschieden entgegen.

Auch ein weiterer Punkt der These 2 von Platz ist ein entscheidender Faktor bei der Beurteilung des Einflusses, den der Alternativtourismus auf die sozio-kulturellen Veränderungen im Ort hat. Es ist die Tatsache, daß die Kontrolle über die touristische Infrastruktur bei den Pedranos selber liegt. Platz schreibt: "Konrolliert die lokale Bevölkerung die touristische Infrastruktur, wird sie ökonomisch stärker profitieren und kann die eigenen Bedürfnisse stärker einbringen." (ebd.: 38). Ebenso bedeutend ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß der Tourismus nicht der einzige und auch nicht der wichtigste ökonomische Sektor in San Pedro ist, denn "je stärker die Diversifizierung des ökonomischen Sektors ist, desto geringer ist die Gefahr einer einseitigen Abhängigkeit vom Tourismus" (ebd.: 38). Nach wie vor spielt der Kaffeeanbau die größte ökonomische Rolle im Ort und auch der Handel und das Transportwesen sind nicht zu unterschätzende wirtschaftliche Faktoren.

In Verbindung mit den übrigen Thesen von Platz läßt sich zusammenfassend behaupten, daß der Einfluß, den der Alternativtourismus auf den kulturellen Wandel in San Pedro hat, begrenzt ist und nicht überbewertet werden darf. These 6 von Platz weist jedoch auch auf den Zeitfaktor hin und fordert mehrere Untersuchungen über eine längere Zeitspanne hinweg. Weitere Studien, die die Entwicklung des Tourismus in San Pedro und seine sozio-kulturellen Auswirkungen untersuchen, wären also für eine genauere Bewertung von Nöten. Speziell der Einfluß, den die Alternativtouristen auf die Entwicklung der Jugendlichen in San Pedro haben, wäre dabei genauer zu untersuchen.

Zuletzt möchte ich jedoch noch auf die größte Gefahr hinweisen, die der Tourismus in San Pedro mit sich bringen könnte. Wie schon erwähnt gibt es in San Pedro eine Aufspaltung der Bevölkerung in zwei Teile, die unter anderem geographisch faßbar wird und auch bei der Interaktion mit dem Tourismus eine Rolle spielt. Bei der Entscheidung von 1995, ob die Touristen nach dem Drogentod zweier Ausländer weiterhin zu dulden seien, oder nicht, wurden die unterschiedlichen Einstellungen der beiden Bevölkerungsteile bezüglich der Touristen das erste Mal konkret ersichtlich. Die Gefahr besteht hierbei darin, daß ein verstärkter Zuwachs des Tourismus diese Bevölkerungsspaltung vorantreiben könnte und dadurch das Selbstbewußtsein und den Zusammenhalt der Pedranos, den sie noch 1983 bei der Vertreibung der staatlichen Instanzen bewiesen haben, und welcher die Vorraussetzungen für die relative Vertäglichkeit des Tourismus darstellen, unterwandern könnte. Es besteht also die Gefahr, daß der Alternativtourismus in San Pedro zu verstärkten internen Konflikten führt.

 


1. Nach: Liem, O.: Akkulturation als Konzept des kulturellen Wandels. In: Zeitschrift für Kulturaustausch, 24. Jg. (1974), S. 4-9. (zurück)

2. Nach: Fischer, H.: Ethnologie und Tourismusforschung. In: Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde. Hamburg, N.F., 12 (1982), S. 37-54. (zurück)

3. Der früher geläufige Begriff "Subkulturen", wird heute in der Jugendkulturforschung nicht mehr, oder nicht mehr in dem Maße benutzt (Baake 1993: 114ff). (zurück)

4. Im 19. Jahrhundert gab es den Begriff des "Jünglings", der die Projektion bürgerlicher Zielvorstellungen verkörperte, während im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung die immer zahlreicher heranwachsenden Arbeiter, eine "Proletarierjugend" entstand, die negativ besetzt wurde. Während das Jünglingsbild verblaßte, wurde der "Jugendliche " zum Thema (Baacke 1993: 203). (zurück)

5. Ganz anders verhält es sich bei den jugendlichen Pedranos jedoch mit dem Kokainkonsum. Zum Einen ist diese Droge wohl für die meisten zu teuer, zum Anderen kommt hier aber auch so etwas wie ein "negativer Demonstrationseffekt" zum tragen, der durch gelegentliche Demonstration von Drogenelend ausgelöst wird. (zurück)

 

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