Sexuelle Kettenreaktionen (Teil III)

The Chain Reaction

Softsex Video im Reigenformat, mit dem tschechischen Pornostar Joflan Panlik als Coming Outler, der sich zum ersten Mal unter die Männer wagt.

Es ist natürlich Unsinn, besprechen zu wollen, wie sehr ein Erotikfilm ansprechend wirkt. Die Geschmäcker, Vorlieben und Erwartungen an einen (Soft)Sex-Film sind dafür viel zu individuell, als dass von Objektivität noch die Rede sein könnte. Queer View interessiert sich daher vielmehr für die Umsetzung dieses filmtechnisch oft sträflichst missachteten Genres. Unsere alte Besprechung zu The Chain Reaction holen wir deshalb noch einmal aus der Versenkung hervor, weil es im Rahmen unserer Reihe der sexuellen Kettenreaktionen in Spielfilmen Sinn macht:

Prag scheint DIE ehemalige Ostblock-Stadt zu sein, die der ehem. Westen als eine neue Metropole schwulen Lebens entdeckt, so auch in diesem 77minütigen Erotikfilm, den der britische Verleih Pride Video gleich selbst produzierte. Eine Frage der Zeit war es, bis die Spuren der Reigen-, also Kettenprinzip-Promiskuität auch vom Erotikfilm aufgenommen wurde.

Eine solche Kette löst Teenie Daniel aus, als er seinen ganzen Coming-Out-Mut zusammenrafft und in seine erste schwule Café-Bar stolpert. Wie das so ist, hat es ihm sogleich der Barmann angetan. Da er sich aber in Gedanken unter all den jungen Männern nicht entscheiden kann, die da um ihn herum sitzen und laufen, wird er zunächst von einem Stricher in der Arbeitspause abgeschleppt. Doch mitten im Geschehen platzt ein, offensichtlich mit dem Stricher befreundeter, Soldat herein, der Daniel verjagt, um sich selbst den Stricher vorzunehmen. Die Kette ist begonnen worden, der Soldat gabelt später einen Lederjungen auf, der wiederum auf einen Barbesucher trifft. Es werden sich noch ein Ober, ein Krafttraining-Lehrer und ein Fotograf eingliedern, bis letzterer vom Barmann vernascht wird und – Ihr ahnt richtig – dieser endlich von Daniel (in Gedanken) gesagt bekommt: "Finish the chain with me! – Schließe den Kettenkreis mit mir!"

Die Handlung wird aus dem Off von der inneren Stimme Daniels begleitet und gibt anfangs mit einem wiederholt platten "Bin ich's – bin ich's nicht?" (schwul natürlich) den erwarteten Pseudo-Charakter. Doch so minimalistisch die Handlung auch ist, zum Schluss habe ich mich tatsächlich für den Daniel-Charakter gefreut, dass er seinen Barmann nun doch noch bekommen hat. Allein das Phänomen, dass ich in diesem Filmgenre Personen als Charaktere wahrnehme, nicht nur als Sexualobjekte, stellt die Regieleistung von Xavier unter Beweis.

Trotz der Vorgabe, bestimmte Versteifungswinkel und verschiedene Penetrationsarten nicht zu zeigen (es sei denn, Ihr seid in Besitz flinker Finger und einer anständigen Pausenfunktion, dann habt Ihr ersteres), hat der Betrachter dank Steve Friendlys Kamerafertigkeiten das Gefühl, mehr zu sehen, als es zu sehen gibt und muss sich nicht über schroff-offensichtliche Bildausschnitts-Beschränkungen ärgern, sondern darf befriedigt feststellen, dass weniger manchmal eben unbedingt mehr ist. Auf diese Weise verleiht sich das Ausbleiben pornographischer Darstellungen nicht die Aura von Prüderie, Zensur oder Unvollständigkeit, sondern setzt virtuos die Kunst des teasens ein: Das Publikum wird ständig in der Erwartung geschürt, mehr zu sehen, als es weiß, vor die Augen zu bekommen, bzw. muss sich hart gedulden, bis es das sieht, was es weiß, gleich erleben zu dürfen. Wenn bsw. fünf aufeinanderfolgende sit-ups immer näher zu den Lippen des Gegenüber führen, aber erst sechs Minuten vergehen, in denen die zwei (drei, um genau zu sein) ganz andere Dinge anstellen, ehe die Lippen aufeinandertreffen und die Sequenz damit beenden, dann wird ein Kuss als etwas Begehrteres, ja zum Höhepunkt aufgebaut, selbst wenn die Zwischenhandlungen viel weitgehender zur Sache schreiten. So kann ein von schräg unten fotografiertes Kinn um ein Vielfaches erotischer wirken, als in anderen Produktionen so mancher mit der Kamera draufgehaltene Unterleib aus der gleichen Perspektive.

Ein zartes Verbeißen in gestreckte Hälse und teilweise zaghafte Berührungen steifer Brustwarzen versprühen scheue Sinnlichkeit, der gekonnte Einsatz ausgewählter Sportgeräte schwitzende Erotik. Selbst Anflüge von Geborgenheit kommen in einzelnen Szenen auf. Ebenfalls angenehm überraschend trifft den Zuschauer, dass einige Darsteller nicht immer cool oder angestrengt geil dreinschauen müssen, sondern auch mal freudig lachen können, während sie sich in den Armen liegen oder in die Augen schauen.

Auf der innovativen visuellen Ebene kann mann bei The Chain Reaction durchaus von künstlerischem Gestalten sprechen. Mit einem guten Dutzend Effekten und Spielereien wird im Einzelnen sparsam umgegangen, so dass Langeweile keine Chance hat, ganz im Gegensatz zu dem '92er The Disconnected desselben Verleihs. Fast kein Wunder mehr, dass sich die musikalische Begleitung von dem sonst üblichen Krankenhaus-Fahrstuhl-Gedudel abhebt und sich sowohl an der Natur der einzelnen Erotik-Sequenzen orientiert, dem momentanen Geschehen, als auch an dem Handlungsrahmen im Ganzen. Das Grundthema reicht von Tecknogesang bis zu sanft-euphorischen Klavierklängen, wenn Coming Outler Daniel endlich seinen Barmann erwischt – eine Szene, die gekonnt die fickrige Morgenstimmung nach einer erotisch anregenden Nacht wiedergibt, wenn die Stühle in den Nachtcafés schon auf den Tischen stehen, die Stadt noch schläft und in ein helles Blau getaucht ist. The Chain Reaction – ein Erotikfilm, der sich auch für Genrefans lohnt, entdeckt zu werden, wenn diese nicht unbedingt auf weiße, schlanke Jugendliche um die 20 stehen.

ki, Berlin

Filmdaten

English Version

Sexuelle Kettenreaktion, Teil I: The Way We Are
Sexuelle Kettenreaktion, Teil II: Eclipse

copyright: Queer View, 30. Juni 1997
© PPL Nr.10 – Februar 1996