Vierter Schritt: Beim Fahren nur Fahren und sonst nix
Dieses letzte Kapitel beschreibt nun konkret die Vorgehensweise während der Fahrt. Es ist insofern das wichtigste, als es letztendlich über Erfolg oder Misserfolg entscheidet.
Die erste Kernaussage lautet:
beim Fahren muss ich mich ausschließlich mit den Vorgängen auf der Straße befassen, alles andere muss warten.
Das klingt zunächst trivial bzw. selbstverständlich. Aber nach meinen täglichen Beobachtungen liegt hier vermutlich die Hauptursache der vielen Unfälle.
Ganz offensichtlich ist es sehr vielen Verkehrsteilnehmern nicht bewusst, dass sie gewissermaßen auf einem Pulverfass sitzen. Denn bei 50 km/h bewege ich mich jede Sekunde etwa 14 Meter vorwärts. In jeder einzelnen Sekunde kann mir jemand vor den Lenker hopsen, einer mir die Vorfahrt nehmen, auf meine Spur einscheren oder vor mir aus der Parklücke fahren. Und bei 180 sind es 50 Meter in jeder Sekunde. Wenn ich jetzt nur drei Sekunden etwas anderes mache (z.B. im Handschuhfach nach Zigaretten suche oder eine CD in den Player reinfummle), habe ich 150 Meter im Blindflug zurückgelegt. Was kann mir da bereits alles in die Quere gekommen sein (falls ich überhaupt noch auf der Fahrbahn bin).
Der folgende Vergleich soll klarmachen, was ich meine.
Ein anderes Beispiel:
Die Beispiele sollen deutlich machen, was ich unter einer angemessenen Aufmerksamkeit verstehe. Natürlich ist die Intensität dieses »Lauerns« situationsabhängig. Wenn ich auf einer knochentrockenen, ebenen, geraden, leeren, dreispurigen Autobahn mit 140 dahinschlendere, kann ich auch mein GPS aus der Tasche holen und mit einer Hand am Lenker befestigen. Gleichzeitig über die Gegensprechanlage mit meiner Mausi quatschen, die hinten drauf sitzt.
Wenn ich aber bei Schneeglätte zwischen zwei LKWs geraten bin, meine Scheibe zugeschmaddert ist, und mir vorne einer gerade die Vorfahrt nimmt, ist es nutzlos, mich anzusprechen. Meine Beifahrer wissen, was ich meine. In diesem Augenblick gibt es nichts, was mich von der schwierigen Verzögerungsaktion ablenken könnte.
Die zweite Kernaussage lautet: Die Hauptbeschäftigung beim Fahren liegt in der Planung der nächsten Zukunft.
Was soll das bedeuten? Mit der »nächsten Zukunft« meine ich die nächsten Sekunden. Genau gesagt, ich meine damit den Zeitraum bis zum Erreichen eines sicheren Zustandes. Ich berechne die nächsten Ereignisse, als ob ich eine Film-Vorschau sehe. Ein »sicherer Zustand« wäre z.B. das Stehenbleiben am Straßenrand, weit weg von der Fahrbahn. Oder die Möglichkeit, wieder einscheren zu können, bevor die Straßenverengung kommt.
Mit anderen Worten: das einzige was ich beim Fahren mache, ist ein Scannen der Umgebung, Berechnen der nächsten Sekunden und Bewerten des Gefahrenpotentials. Bei drohender Gefahr beginne ich sofort mit der Konstruktion einer Methode, trotzdem noch einen sicheren Zustand zu erreichen.
Wenn eine Situation sich anbahnt, dass ich solch einen Zustand nicht mehr erreichen kann (z.B. zu schnell, zu viele Gegner, Bodenhaftung weg), muss ich sofort dagegen arbeiten, noch bevor es wirklich gefährlich wird. Ich glaube, dass meine Methode sich in diesem Punkt von vielen anderen Verkehrsteilnehmern unterscheidet. Denn wenn ich täglich den Straßenverkehr, die Nachrichten oder die Unfallstatistiken anschaue, scheint es mir, dass viele frühestens dann aufwachen, wenn es schon gefährlich ist.
Unfälle sind keine Zufälle. Die meisten kündigen sich mindestens einige Sekunden vorher an. Und diese Sekunden nutze ich, um mich davon fern zu halten.
Ein abschließendes Beispiel soll dieses Verhalten anschaulich demonstrieren. Und zwar habe ich das Beispiel einmal in meiner Version formuliert, und einmal in der Version des notorischen Verunfallers.
Danach kommt dann noch das Kapitel "Tugenden und Gefahren". Hier werden spezielle Einzelsituationen beschrieben, bei denen ich das angebracht finde.
Meine Version:
Bei herrlichem Sonnenschein fahre auf der trockenen leeren dreispurigen Autobahn mit 240 km/h.
Am Horizont ist irgendwas zu sehen. Aha, denke ich und nehme schon mal den Fuß ein bisschen runter. Ein paar Sekunden später stelle ich fest, dass dort mehrere Autos sind. Also nehme ich nun das Gas ganz weg. Im Rückspiegel ist alles leer. Das Geschehen am Horizont nimmt langsam Form an. Es scheint sich um eine größere Menge von Autos zu handeln.
Inzwischen bin ich auf 160 runter.
Jetzt wird mir schlagartig klar, dass die da vorne alle stehen. Ich schalte den Warnblinker ein und gehe auf 80 runter. Gleichzeitig beobachte ich den Rückspiegel, ob da einer von den »Wer bremst, verliert« -Typen auf mich zukommt. Falls ja, gebe ich kurz vor dem Aufprall noch mal richtig Gas, so dass ich ihn gewissermaßen nach vorne abpuffere.
Ich lasse mein Bremslicht immer mal aufblitzen, und rolle nun im Schritttempo auf den Haufen zu. Noch 100 Meter bis zur stehenden Schlange. Für den Fall, dass doch noch einer von hinten wie eine Bombe einschlägt, habe ich mir schon einen Fluchtweg nach vorn ausgerechnet.
Die normaldeutsche Version (sie führt zu den täglichen Verkehrsfunkmeldungen):
Bei herrlichem Sonnenschein fahre ich mit meinem supersicheren Auto auf der leeren trockenen Autobahn mit 240 km/h.
Mein Auto ist mit diversen Fremdwörtern ausgerüstet (ABS, TCS, UKW, DSL und so weiter) deren Bedeutung ich nicht kenne aber die mir garantieren dass niemals etwas passieren kann.
Mein schweres Gepäck habe ich auf das Dach geschnallt, weil der Kofferraum mit Lautsprechern schon voll ist. Dass meine Stoßdämpfer im Eimer sind, finde ich prima, weil das Geschaukele mich immer ans Ehebett erinnert. In den Rückspiegel schaue ich sowieso nie, da ich ja immer der schnellste bin.
Als ich meinen Blick von meiner betörenden Beifahrerin kurz abwende, bemerke ich dass am Horizont irgendetwas zu sehen ist. Das berührt mich wenig und ich wende mich wieder den Beinen meiner Beifahrerin zu. Ein paar Sekunden später bemerke ich, dass da irgendwie mehrere Autos vor mir sind. Das finde ich Klasse, denn nur durch Konfrontation kann man sich in diesem Leben wirklich behaupten. Also bleibe ich weiter auf dem Vollgas (das nächste Mal kaufe ich mir ein ganz schnelles Auto).
In diesem Moment klingelt ausgerechnet auch noch das Handy. Ich versuche es aus der Hemdtasche rauszufummeln. Für die Freisprecheinrichtung hat es ja leider nicht mehr gereicht, da die 62000 Euro für den Wagen die Kreditlinie völlig ausgeschöpft haben. Während ich dem Anrufer klarmache, dass ich übermorgen KEINE Salami-Pizza möchte, bemerke ich dass vor mir auf der Autobahn mehrere Wagen relativ langsam fahren. Man könnte auch sagen, sie stehen. Aber man soll ja nicht gleich das schlimmste annehmen, schließlich sind wir Optimisten, und ein Blick auf meinen Tacho zeigt, dass die Kiste nach wie vor 240 km/h schafft. Immerhin habe ich ja einen Haufen Geld für den Hobel hingelegt. In diesem Kleidchen sieht meine Süße wirklich bezaubernd aus, und ich werde nicht müde, sie anzuschauen.
Das finde ich jetzt aber nett jetzt mit den Wiener Würstchen. Hast du noch Senf und eine Serviette dazu?
Guck mal da vorne, alles voller Autos! Na, die werden bestimmt schon wieder weg sein, bevor wir ankommen.
Ich fühle mich herrlich jetzt mit dieser superschnellen Kiste bei diesem wunderbaren Sonnenschein. Das erinnert mich in wohliger, anheimeliger Weise an meine Lieblings-TV-Serie »Mit Lucinda auf dem Highway«.
Schau mal da links, das kleine Tannenwäldchen! Warum blinken und winken die alle so im Gegenverkehr? Hier in der Nähe hatte meine Cousine mal ein Häuschen, sie hat rote Haare und einen prima Job bei der Bayerischen Knösel-Gesellschaft. Und sie kennt einen Schwager von der Stiefschwester von Theodor Gottschreck!
Da vorne hat einer den Warnblinker an. Na, der hat bestimmt 'ne Panne, har, har!
Nach einer kurzen, aber äußerst wichtigen Abstimmung mit meiner Gefährtin (sie will nämlich übermorgen DOCH eine Salami-Pizza) muss ich zunächst einige Übertragungsprobleme mit dem Handy bewältigen. Wegen dem Verbindungsabbruch muss ich jetzt neu wählen, gar nicht einfach bei dem Tempo.
Da bremsen jetzt auch noch ein paar Idioten vor mir! Diese Angsthasen! Und das, obwohl ich so dicht dahinter bin! Na ja, das ist eine gute Gelegenheit, an ihnen vorbeizubrausen. Kannst an meinem Auspuff schnuppern! Ich drehe mich noch mal um und mache dem Fatzke eine lange Nase.
Als ich wieder nach vorn sehe, bemerke ich, dass ich von der stehenden Autoschlange nur noch etwa sieben oder acht Meter entfernt bin. Es bleibt keine Zeit mehr, mich zurechtzufinden (Fahrersitz statt Fernsehsessel), auf den Tacho zu schauen (240 km/h), die Zeit bis zum Aufprall auszurechnen (0,12 Sek), oder ein letztes Mal in den Rückspiegel zu sehen (da sind die anderen Sicherheits-Sessel-Gemütlichen drin).
Eines ist sicher: keiner von uns wird diesen Aufprall überleben.
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