Mein Freund Wernherr behauptet, der Mann da mit dem großen Hut, das sei der Gärtner hier, "Der große Gärtner".
Sein Hut ist so groß und dessen Krempe so weit, dass sie als Regenschirm dienen könnte, falls es hier jemals regnen sollte. Dieser Gärtner würde nicht nass unter seinem Hut. Aber auch sein Mantel ist groß und weit, obwohl es hier überhaupt kein Wetter zu geben scheint, weder Blitz noch Donner, weder Sonne noch Mond, weder Hitze noch Kälte, nichts von dem, was man Wetter nennen könnte. Wozu braucht er dann einen großen Mantel?
Je länger ich mir diesen Gärtner ansehe, desto weniger begreife ich, wozu er einen großen Hirtenstab wie einen Spazierstock benutzt. Wozu braucht ein Gärtner einen Hirtenstab? Ich sehe keine Herde, die er zu hüten hat, weder Schafe noch Gänse, weder Kühe noch Pferde. Vielleicht wird Wernherr sie noch heraufbeschwören, damit sein Gärtner etwas zu tun bekommt, sein Hirte etwas zu hüten. Was sehe ich hier überhaupt? Eine künstliche Straße, einen kolossalen Laufsteg, der beiderseits von langen Mauerstücken begrenzt wird. In dieser Mauer gibt es Lücken, durch die man hereinkommen oder weggehen könnte. Woher könnte man hierher gelangen? Und wohin gehen? Hier oben scheint keiner zu wissen, wie hoch dieser Laufsteg sich wölbt über irgendeiner Welt darunter. Durch eine dieser Lücken in
der Mauer kommt eben ein Mann herein. Das könnte Herr Schmitt sein, den ich früher mal kannte. Seine Körperhaltung, sein Schritt, das könnte Herr Schmitt sein, der mich mal auf die Schreibweise seines Namens aufmerksam machte, "Schmitt mit tt.". Er wollte sich von den vielen anderen Schmidts unterscheiden, die sich mit "dt" schreiben oder einfach nur Schmied heißen.
Die von Schmieden abstammen, die am Amboss stehen und den Hammer schwingen, von den Handwerkern, die Hufeisen schmieden und den Pferden auf die Hufe brennen. Herr Schmitt braucht hier kein Schmied zu sein, ich sehe nicht, was er hier tun könnte, wo es keine Tiere gibt. Weder Vögel noch Hunde, keine Mäuse , keine Katzen. Ich sehe nur, was Wernherr gesehen hat. Nicht mehr und nicht weniger. Außer dem Gärtner und dem Herrn Schmitt sehe ich weit hinten, wie ein Kind einem Trudelreifen hinterherläuft. Es scheint ein Junge zu sein, der mit großen Schritten seinem Trudelreifen folgt. Von rechts nach links in diesem Bild, über dem sich kein Himmel zeigt, kein Himmel und keine Wolke. Und wo es keine Wolken gibt, da gibt es auch keinen Regen. n der Mitte dieser Hochstraße gibt es ein quadratisches Loch, eine offene Luke, an der der Gärtner vorbeigeht, obwohl er sich nicht vom Fleck bewegt. In dieser Luke steht eine Leiter, schräg angestellt.
Aber niemand ist zu sehen, der sie benutzt, niemand, der heraufkommt oder hinabsteigen möchte.
Mag sein, dass der Gärtner oder Herr Schmitt oder das Kind mit dem Trudelreifen über diese Leiter heraufgekommen sind. Wie sind sie denn sonst hierhergekommen, auf diesen Laufsteg sondergleichen. Erstaunlich jedenfalls, dass aus dieser Luke eine mächtige Säule aufsteigt, die auf ihrem Kopf eine Schüssel trägt, eine große Schale, aus der das Laub eines großen Baumes quillt. Die Adern der Blätter dieses Baumes sind wie dicke Schläuche, durch die irgendein Kraftstoff fließt, der diese Blätter wachsen lässt. Und mit diesen Blättern auch diesen Baum. Hätte ich Zeit genug darüber nachzudenken, was dieser Baum und diese Blätter bedeuten, hätte ich längst bemerkt, dass Zeit hier oben keine Rolle spielt. Wo keine Sonne aufgeht oder untergeht, kein Mond und keine Sterne sich blicken lassen, da scheint es auch keine Zeit zu geben, keine Woche, keinen Monat, keine Jahre. Der Rest meines Verstandes fragt sich hier, was die Blätter dieses Baumes transformieren, wo es kein Sonnenlicht gibt, keinen Regen, keinen Wind. Ob sie ein unbekanntes Gas ausströmen, das Wernherrs Figuren hier am Leben hält. Mag sein, dass er seinen Gärtner einen Großen nennt, weil der dafür zu sorgen hat,
dass der riesige Baum gut funktioniert.
Ich würde ihm gern bei der Arbeit zusehen.
Wenn Wernherrs Großer Gärtner seinen großen Hut ablegen würde, seinen Hirtenstab und seinen flatternden Mantel, würde er schlank genug sein, über die Leiter durch die Luke in die Tiefe zu steigen, um nachzusehen, ob der Wurzelgrund dieses Baumes der Pflege bedarf.Wozu sonst diese Leiter, diese Luke, wenn da unten nichts wäre, was für Baum und Blattwerk wichtig wäre?
Je genauer ich mich hinzusehen bemühe, desto mehr vergesse ich mich selbst. Je eifriger ich wissen möchte, was hier gespielt wird, desto mehr habe ich das Gefühl, mir selbst abhanden zu kommen. Es fehlt nicht viel und Wernherr könnte mich zeichnen oder malen oder in Stein gravieren, wie ich über irgendeinen Tellerrand gucke und Gestalten sehe, die nur er im Traum gesehen hat.
Arnim Juhre
geboren 1925 in Berlin-Neukölln,
gestorben 2015 in Wuppertal.
1962 - 1969 im Evangelischen Rundfunkdienst Berlin.
1977 - 1990 in Hamburg, zuletzt als Literatur-Redakteur beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt. Mitglied im deutschen P.E.N.
Erzählungen "Das Salz der Sanftmütigen", Auflagen 1962 und 1989.