Mary Craig erzählt erstmals die Geschichte der Familie des XIV. Dalai Lama, der von seinem Volk auch Kundun genannt wird, was die Gegenwart des Buddha bedeutet.
Immer wieder lässt sie ihr detailliertes Hintergrundwissen über die Geschichte Tibets in die Erzählung mit einfließen. Damit zeichnet sie auch ein facettenreiches Bild der Bevölkerung, dessen Kultur, Lebensweise und Glaubensinhalten. Zur Vorbereitung von Kundun besuchte Mary Craig auf zahlreichen Reisen Dharamsala, den in den Bergen Nordindiens gelegenen Wohnsitz des Dalai Lama und seiner Exilregierung. Sie führte unzählige Gespräche mit Angehörigen und Vertrauten des Dalai Lama, sowie mit dem Kundun selbst. Wie ein Puzzle setzte sie die erhaltenen Informationen zusammen. So gelang es ihr einen Einblick in die einst für Fremde verbotene Hauptstadt Lhasa (was soviel wie Sitz der Götter bedeutet) und die Residenzen des Kundun zu geben. Obwohl Mara Craigs Buch von der Familie des Dalai Lama handelt, ist seine Lebensgeschichte der rote Faden. Nach einem kurzen Abriss über die Geschichte Tibets und seiner religiösen Führer, beschreibt sie die Suche nach der Reinkarnation des XIII. Dalai Lama, das bis dahin sorglose Leben seiner zukünftigen Heiligkeit, seine strenge Ausbildung, seine Regierungszeit und schließlich die Flucht und das Leben im Exil. Als kleiner Junge lebte Lama wie in einem goldenen Käfig, der seinen Palast nur verließ, um von der Sommer- in die Winterresidenz zu ziehen und umgekehrt. Der Dalai Lama selbst beschreibt seine Einsamkeit nach den offiziellen Audienzen, wenn er in einem kleinen Raum sich selbst und seinen Büchern überlassen wurde. Was ihm übrigens die Augen ruinierte und dazu führte, dass er eine Brille tragen muss.
Sein
liebster Zeitvertreib war sein Fernrohr, mit dem er einen Blick auf das
Leben außerhalb der Palastmauern werfen konnte. Das erklärt
auch, warum die Ansichten des Lama zu Beginn seiner Regierungszeit recht
weltfremd waren. Craig lässt in ihrer lockeren Art auch keinen Zweifel
daran, dass selbst ihr, als Kennerin der tibetischen Mentalität und
Weltanschauung, die ein oder andere Begebenheit doch recht sonderbar vorkommt.
So scheint es beispielsweise keiner TibeterIn seltsam vorgekommen zu sein,
dass einer der Brüder des Kundun in seiner Person gleichzeitig die
Reinkarnation des früh verstorbenen jüngeren Bruders und eines
tibetischen Würdenträgers vereinigt. Obwohl diese Familienbiografie
reich an kleinen Geschichten ist, die sich um die einzelnen Familienmitglieder
ranken, so ist doch unverkennbar, dass es der Autorin vordergründig
um wichtige Ereignisse aus dem Leben des Kundun geht. Sie schreibt u.a.
von seinem Besuch des Grabmals seines großen Vorbildes Mahatma
Ghandi, während einer Indienreise. Hier betete und meditierte
er, um eine Antwort auf seine Situation zu finden. Was hätte Ghandi
an seiner Stelle getan? Er entschied, dass auch Ghandi in jedem Fall einen
friedvollen Weg für sein Volk eingeschlagen hätte. Wie richtig
dieser Entschluss des Dalai Lama damals war, zeigte sich 1989, als er den
Friedensnobelpreis erhielt.
Kundun ist eine spannend erzählte Familienchronik, die eine gute Ergänzung zu den autobiografischen Veröffentlichungen des Kundun bildet. Durch die Verwandten und Vertrauten, die zu Wort kommen, füllt sich so manche Lücke, die der Lama in seinen Büchern offen lies. Die tibetischen Namen und die von Craig verwendeten wechselnden Bezeichnungen für ein und dieselbe Person machen die Lektüre allerdings recht anstrengend. Eine Art Stammbaum oder ein Namensregister wäre hier sehr hilfreich gewesen.
Für Hollywood-Regisseur Martin Scorsese diente die erste Hälfte von Mary Craigs Biographie, die sich mit der Kindheit des Dalai Lama bis hin zu seiner Flucht ins Exil befasst, als Vorlage für seinen neusten Film, der ebenfalls den Titel Kundun trägt.