Als er aus Europa nach Neuengland in die USA zieht, ist er von seiner neuen Unterkunft und vor allem der aufdringlichen Wirtin Charlotte Haze angewidert. Im Garten entdeckt er allerdings die 12-jährige Tochter Lolita und entscheidet sich prompt zum Verbleib bei den Hazes. Überglücklich schätzt er sich, als ihm Charlotte einen Heiratsantrag stellt. Zwar verachtet er die Mutter, aber auf diese Weise kann er ihrer Tochter noch näher sein.
Sehr zum Entsetzen des College-Professors wird Charlotte eifersüchtig auf ihre neckische Tochter und verbannt sie in ein Sommercamp, von dem sie direkt in ein Internat abgeschoben werden soll. Humberts Alptraum kulminiert in der Neugierde Charlottes, die in seinem Tagebuch blättert und seine wahren, verabscheuenden Gedanken über sie liest. Im einen Moment kündigt sie ihm die sofortige Scheidung an, im nächsten wird sie vom Auto überfahren.
Humbert nutzt die Gelegenheit und holt die ahnunglose Lolita aus dem Sommercamp ab, um mit ihr eine wilde Spritztour quer durch die Vereinigten Staaten zu starten. Den Tod der Mutter verschweigt er dem Mädchen zunächst. Gleich im ersten Hotel bringt er seine Stieftochter zu sexuellen Handlungen, die von nun an für ein Jahr nicht mehr abreißen. Mit Drohungen und Bestechungen macht er Lolita gefügig, die in einem Leben auf Rädern von ihm abhängig ist.
Humbert und Lolita lassen sich schließlich im kleinen Nest Beardsley nieder. Bald regt sich im Stiefvater das Gefühl, Lolita betrüge ihn mit einem Gleichaltrigen. Während sie sich wieder auf den Weg machen, stellt Humbert fest, dass ihnen jemand folgt – ein Erwachsener...
Dabei ist das Lolita-Konzept allein seit Vladimir Nabokovs Romanvorlage von 1955 und spätestens seit Stanley Kubricks Verfilmung aus dem Jahre 1962 ein Schlag ins Gesicht aller Überlebenden, steht es für verführerische Mädchen (und Frauen), die gefährlich dumme aber angeblich aufrichtige Männer auf den falschen Weg führen und schließlich in den Ruin treiben. Seitdem wurden mehr als ein Dutzend namensgebende Lolita-ähnliche Stoffe produziert, darunter natürlich auch jede Menge Sex- und Blaxploitation-Streifen.
Das vorlagen-nächste Remake von Adrian Lyne nun fährt auf die Inzestgeschädigte, besonders im Anspruch eines seriösen Spielfilms, wie eine Salve von Ohrfeigen hernieder. Während in Kubricks Version der Täter eindeutiger als Übeltäter herausgestellt wird, der gar Mordgedanken gegen Charlotte hegt und dem nur der Autounfall zuvorkommt, fühlt sich der aus dem Off erzählende Protagonist in der '97er Version als zu Unrecht Angeklagter und formuliert die Lügen aus, mit denen die Überlebenden sexuellen Missbrauchs nach der Tat zu kämpfen haben – und hüllt sich nur scheinbar in einen den Täter verurteilenden Mantel. Zwar wird angedeutet, dass Lolita leidet, aber im Grunde hätte sich der Täter nichts vorzuwerfen:
Humbert, und mit ihm der Film, geht davon aus, dass es 12-jährige Nymphomaninnen gibt. Insgesamt drei Mal indoktriniert der Erzähler seine ZuhörerInnen mit diesem Begriff, verbindet ihn gar mit Wörtern wie "dämonisch". Mit dieser Lüge Nr. 1 wird den Opfern (und nun dem Publikum) von ihren Missbrauchern eingeredet, sie seien selbst diejenigen, mit denen etwas nicht stimme, die die Greueltaten provoziert hätten und damit Schlampen seien. Humbert benutzt diesen Begriff, der sich eigentlich auf mannstolle Frauen bezieht, bevor er je einen etwaigen Kontakt Lolitas mit Männern vorweisen kann. Sie kokketiert in ihrer aufblühenden Pubertät ein wenig herum und der über 40-Jährige deutet dies als teufliche Verführung um, auf dass er eine Entschuldigung gefunden habe, seine zukünftige Stieftochter zu missbrauchen.
Die Krönung dieser Unverschämtheit besteht in Humberts Rechtfertigung
an eine "Jury", also das Publikum, in der er sich darüber beschwert,
dass er als "Daddy" nicht einmal der erste Sexualpartner in Lolitas leben
sei, für ihn also der endgültige Freischein zum Missbrauch.
Lüge Nr. 4: Schwule sind Kinderschänder. Dies wird impliziert, indem Quilty Humbert anmacht, er möge nicht nur die Töchter, sondern auch deren Väter – und sich ekligst seinen Morgenmantel das Bein hochschiebt. Fakt ist, die meisten Täter sind nun einmal Heteros.
Lüge Nr. 5: Der Täter liebt das Mädchen. Mit Liebe hat es wahrlich nichts zu tun, wenn das Leben eines Schutzbedürftigen auf lange Zeit zutiefst zerrüttet wird. Die Macht des Beherrschens und die eigenen Bedürfnisse interessieren den Täter, nicht das Wohlergehen des Mädchens. Unglaublich, die einsetzende romantische Musikbegleitung, als der Missbraucher nach Jahren seine von ihm geflohene Stieftochter wiedertrifft.
Neben diesen bösartig verbreiteten Lügen reihen sich die weiteren Unverschämtheiten nahtlos aneinander. Angefangen mit der hysterisch-kreischigen Mutter als Hass-Sinnbild aller erwachsener Frauen für ach so arme genervte Männer, die selbstverständliche Übertragung IHRES Hauses an den unverschämten Ehegatten, nachdem sie die Scheidung ankündigt, fortgeführt mit der warnenden Symbolik an die Herren, sich nicht an jungen Mädchen die Finger zu verbrennen (wie Motten in Lichtfallen und in der Schulaufführung der Jäger an der Hexe, von Lolita gespielt), bis dahin, dass nicht etwa die Überlebende Alpträume bekommt und zur Alkoholikerin wird, sondern der Täter. Und das ihretwegen.
Nicht einmal filmisch taugt der neue Lolita etwas. Im Gegensatz zum Original inszenierte Lyne abstoßende Zahnspangen- und Lutscherfetichismen, die billigsten Phantasien des Prostitutionsgewerbes entsprechen. Eine Zumutung, dass sich andere Gedanken machen können, wie gut doch Dominique Swain die Lolita spiele. Was sagt das über die KritikerInnen und unsere Gesellschaft aus, wenn eine Schauspielerin sich über kriechende Kameras und dem Abspielen von Strich-Phantasien "entdecken" lassen muss?
Brächte es dem chauvinistischsten Film, der bisher in diesem Jahrzehnt in unsere Kinos gekommen ist, nicht unerwünschte Publicity, wir würden uns von unseren Schreibtischen erheben und ein paar Aktionen ausdenken. So raten wir nur, euch nicht den nächsten Monat oder länger mit dem Nachgeschmack dieses Missbrauch-Schunds zu belasten.
Der Gegenschlag II: Der
Campus
Der Gegenschlag III: Artemisia
Filmdaten:
Offizieller Link: Nicht vorhanden oder nicht bekannt.