MICHAEL DÜRR

Das Popol Vuh

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In den Jahrzehnten nach der Eroberung durch die Spanier entstand in Mexiko und Guatemala eine umfangreiche, mit dem lateinischen Alphabet niedergeschriebene Literatur in indianischen Sprachen. Träger dieser Literatur waren nicht nur spanische Kleriker, die religiöse Literatur übersetzten, sondern auch Angehörige der alten indianischen Oberschicht, die in Missionsschulen christianisiert und alphabetisiert worden waren. Zahlreiche Chroniken, Briefe und Testamente, aber auch Landkarten mit bilderschriftlichen Elementen wurden geschrieben, deren Ziel es war, Ansprüche auf Landbesitz und Privilegien zu belegen.

In diesem Kontext entstand nach 1550 das Popol Vuh. Es wurde in Quiché-Sprache mit lateinischen Buchstaben niedergeschrieben und ist nur in einer Abschrift aus der Zeit um 1700 erhalten. Popol Vuh hat etwa die Bedeutung "Buch der Herrschaft": pop "Matte (ein Symbol der Herrschaft)" +ol "Abstraktum" und vuh "Buch". Das Werk hat die mythische Geschichte des Quiché-Volkes zum Thema, eines der wichtigsten Maya-Völker in Guatemala. Die Bekanntheit des Popol Vuh dürfte auf die starke Betonung vorspanischer Mythen zurückzuführen sein, die mehr als die Hälfte des Werkes ausmachen und es von anderen Quiché-Texten unterscheiden.

Entsprechend dem indianischen Geschichtsverständnis beginnt der Text mit der Schöpfung, um nach der Erschaffung der ersten wirklichen Menschen in die anfangs noch legendenhafte Geschichte des Quiché-Volkes und seiner Fürsten überzugehen:

  1. Zunächst scheitern die Versuche der Götter, Wesen zu schaffen, die sie verehren; weder die Tiere, noch die Wesen aus Schlamm und Holz beten zu den Göttern, weshalb sie von der Kultur ausgeschlossen oder vernichtet werden.
  2. In einem langen Einschub ordnen die Kulturheroen Hunahpu und Xbalanque die Welt: sie töten den überheblichen Vucub Caquix und seine beiden Söhne Zipacna und Cabrakan und besiegen die Herrscher von Xibalba, einer Art Unterwelt, um anschließend zu Sonne und Mond zu werden.
  3. Nach diesem Einschub wird die Schöpfungsgeschichte mit der Erschaffung der ersten Menschen aus Mais und dem ersten Sonnenaufgang vollendet. Die ersten Menschen, die Ahnväter der Quiché, verehren die Götter und machen die Schöpfung nunmehr zu einem Erfolg. Sie breiten sich aus und unterwerfen im Auftrag ihres Stammesgottes Tohil die Nachbarvölker.
  4. Nach dem Tod der Ahnväter wird die Wanderung der Quiché erzählt, die in ihrer letzten Hauptstadt Cumarcaah endet, von der aus sie das Hochland von Guatemala bis zur Eroberung durch Pedro de Alvarado im Jahre 1524 beherrschen. Das Popol Vuh schließt mit der Aufzählung der einzelnen Fürstenfamilien und deren Götter.

Anders als in verwandten kolonialzeitlichen Texten wie z.B. dem Título de Totonicapán distanziert sich der Autor des Popol Vuh nicht von den vorspanischen Traditionen. Im Gegenteil, er schreibt sie ausführlich nieder und macht die Religiosität der Quiché zu einem Leitmotiv des Werkes. Auf dieser Grundlage werden die vorspanischen Verhältnisse gerechtfertigt und die Herrschaft der Quiché legitimiert. Im Popol Vuh wird eine Heilsgeschichte mit den Quiché als auserwähltem Volk entworfen, die als eine bewußte Gegenposition zur christlichen Heilsgeschichte gemeint ist. Der Autor stellt der christlich-kolonialen Sicht seine eigene Argumentation entgegen. Der Text ist somit trotz der vielen vorspanischen Elemente nicht authentisch vorspanisch, da er in starkem Maße die koloniale Situation reflektiert. Andererseits ist er aber auch nicht synkretistisch, da er auf die fremden christlichen Glaubensinhalte zwar im Einzelfall eingeht, er dies jedoch nur tut, um sie abzulehnen. Der Verfasser des Popol Vuh entschied sich aus der Kenntnis beider Kulturen heraus für einen Standpunkt, der im kolonialen Guatemala unbequem und für ihn persönlich nicht ungefährlich war.

Das Popol Vuh erhält seinen besonderen literarischen Wert gerade aufgrund der kreativen Verarbeitung des kulturellen Kontaktes. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird man dem Werk auch sicherlich eher gerecht als mit der leider allzu verbreiteten ausschließlichen Nutzung als Steinbruch für altindianisches Gedankengut.

Ausgaben (Auswahl): Popol Vuh: Online-Version

Colop, Sam: Popol Vuh. Versión Poética K'iche'. Guatemala 1999
Recinos, Adrián: Popol Vuh. Las antiguas historias del Quiché. México 1947 (mehrfach nachgedruckt)

Schultze Jena, Leonhard: Popol Vuh. Das heilige Buch der Quiché-Indianer von Guatemala. 2. Auflage. Stuttgart 1972

Christensen, Allen J.: Popol Vuh. 2 vols. Winchester, New York 2003
Tedlock, Dennis: Popol Vuh. New York 1985


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