In diesem Kontext entstand nach 1550 das Popol Vuh. Es wurde in Quiché-Sprache mit lateinischen Buchstaben niedergeschrieben und ist nur in einer Abschrift aus der Zeit um 1700 erhalten. Popol Vuh hat etwa die Bedeutung "Buch der Herrschaft": pop "Matte (ein Symbol der Herrschaft)" +ol "Abstraktum" und vuh "Buch". Das Werk hat die mythische Geschichte des Quiché-Volkes zum Thema, eines der wichtigsten Maya-Völker in Guatemala. Die Bekanntheit des Popol Vuh dürfte auf die starke Betonung vorspanischer Mythen zurückzuführen sein, die mehr als die Hälfte des Werkes ausmachen und es von anderen Quiché-Texten unterscheiden.
Entsprechend dem indianischen Geschichtsverständnis beginnt der Text mit der Schöpfung, um nach der Erschaffung der ersten wirklichen Menschen in die anfangs noch legendenhafte Geschichte des Quiché-Volkes und seiner Fürsten überzugehen:
Anders als in verwandten kolonialzeitlichen Texten wie z.B. dem Título de Totonicapán distanziert sich der Autor des Popol Vuh nicht von den vorspanischen Traditionen. Im Gegenteil, er schreibt sie ausführlich nieder und macht die Religiosität der Quiché zu einem Leitmotiv des Werkes. Auf dieser Grundlage werden die vorspanischen Verhältnisse gerechtfertigt und die Herrschaft der Quiché legitimiert. Im Popol Vuh wird eine Heilsgeschichte mit den Quiché als auserwähltem Volk entworfen, die als eine bewußte Gegenposition zur christlichen Heilsgeschichte gemeint ist. Der Autor stellt der christlich-kolonialen Sicht seine eigene Argumentation entgegen. Der Text ist somit trotz der vielen vorspanischen Elemente nicht authentisch vorspanisch, da er in starkem Maße die koloniale Situation reflektiert. Andererseits ist er aber auch nicht synkretistisch, da er auf die fremden christlichen Glaubensinhalte zwar im Einzelfall eingeht, er dies jedoch nur tut, um sie abzulehnen. Der Verfasser des Popol Vuh entschied sich aus der Kenntnis beider Kulturen heraus für einen Standpunkt, der im kolonialen Guatemala unbequem und für ihn persönlich nicht ungefährlich war.
Das Popol Vuh erhält seinen besonderen literarischen Wert gerade aufgrund der kreativen Verarbeitung des kulturellen Kontaktes. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird man dem Werk auch sicherlich eher gerecht als mit der leider allzu verbreiteten ausschließlichen Nutzung als Steinbruch für altindianisches Gedankengut.
Ausgaben (Auswahl): Popol Vuh: Online-Version
Colop, Sam: Popol Vuh. Versión Poética K'iche'. Guatemala 1999
Recinos, Adrián: Popol Vuh. Las antiguas historias del Quiché. México 1947 (mehrfach nachgedruckt)Schultze Jena, Leonhard: Popol Vuh. Das heilige Buch der Quiché-Indianer von Guatemala. 2. Auflage. Stuttgart 1972
Christensen, Allen J.: Popol Vuh. 2 vols. Winchester, New York 2003
Tedlock, Dennis: Popol Vuh. New York 1985