Die Nacht der Pottwale

Unser Ankerplatz lag ganz im Osten von Madeira. Eine karge Steinformation mit Flechtenbewuchs, beeindruckenden Farben und magischer Energie. Diese Region hatte im Gegensatz zur Üppigkeit der übrigen Insel einen ganz anderen Charakter. Nach einer ausgeprägten Morgenmeditation waren alle richtig wach. Gegen neun Uhr liefen wir aus mit Kurs auf Porto Santo, der kleinen Insel nordöstlich von Madeira. Es entstand eine Musiksession, die allen großen Spaß machte. Wir spielten, und Ben machte uns immer wieder aufs Lauschen aufmerksam.

Wir hörten Klicks und Pfiffe, die wir zunächst nicht zuordnen konnten. Es gab zwischen unseren Keyboardtönen und den Pfiffen aus der Tiefe kurze Dialoge. Die Spannung stieg. Heute machte keiner Siesta. Wir bewegten uns in einer unglaublichen Klangvielfalt. Es wurde kaum geredet. Einmal am Nachmittag kamen kurz, aber intensiv Gewöhnliche Delphine zum Boot. Drei von ihnen sprangen gleichzeitig hoch aus dem Wasser. Und dann hörten wir das typische Pottwalklicken. Wir waren ganz dicht dran, lauschten dem rhythmischen Klicken und waren gespannt auf das Auftauchen. Aber sie zeigten sich nicht. Nur ihr ewiges Klicken war zu hören und sollte uns noch die halbe Nacht begleiten. Als ihre Klicks leiser wurden und wir den Kurs unter Segeln nicht beliebig ändern konnten, sagten wir: "Hey Pottwale, dann müßt ihr uns halt jetzt folgen." Und kurze Zeit später wurden die Klicks tatsächlich wieder lauter. Es war wie ein Traum und dann doch ganz real. Wir waren fasziniert von diesem Klangraum. Zweimal hörten einige von uns einen lauten Blas, viel lauter als der von Delphinen und wir sahen eine große schwarze Gestalt, einmal ganz nah an Steuerbord und einmal ein bißchen weiter weg an Backbord. Es war zu dunkel, um sicher zu sein, ob das ein Pottwal war.

Neben den Klicks der Pottwale hörten wir auch die Pfiffe von verspielten Gewöhnlichen Delphinen. Einer versuchte wohl, ins Hydrophon zu beißen. Später waren daran Zahnspuren zu sehen. Aber er hatte es glücklicherweise nicht beschädigt. Wir übten uns darin, das eigene Energieniveau zu halten. Fast alle blieben wach. Ich selbst hatte immer wieder starke Erschöpfungsanfälle, weniger geistig als körperlich. Es schien, als würden bei mir die Klicks eine Art Überdosis verursachen. Ilona war besonders wach und hörte sich das Ganze eine zeitlang mit dem Kopfhörer an, und schrieb später auf: "Das ist ganz intensiv. Die Klicks gehen durch und durch. Sie durchleuchten einen tatsächlich. Sie haben mich erfaßt und ich kann es spüren. Ich werde aufgeregt, mein Herz schlägt schneller. Ich habe Verbindung zu einem Wesen, das tief im Meer lebt und sich im "Unbewußten" auskennt. Es ist eine Intensität und Dichte, daß alle Gedanken sonst weg sind. Nur noch die Klicks bleiben. Sie verzaubern dich in eine unbekannte Welt hinein und tragen dich gleichzeitig in deine eigene unbekannte Welt. Alle Dinge, die du je gedacht hast und noch denken wolltest, da sind sie. Vielleicht haben die Wale eine der wichtigsten Aufgaben auf der Erde, nämlich die schlechten Gedanken der Menschen aufzufangen und zu transformieren, damit sie keine Wirklichkeit werden oder um den größten Schaden zu verhindern. Allerdings haben sie mittlerweile soviel zu tun und sind so dezimiert worden durch uns Menschen, daß sie allerhöchsten Alarm schlagen, damit wir aufhören mit der destruktiven Gedankenproduktion. Es muß eine Instanz geben, die diese Gedanken transformiert, sonst wären wir längst alle zerstört. Vielleicht können uns die Wale beibringen, wie das geht. Vielleicht ist ihr Hirn deswegen dem unseren überlegen. Vielleicht haben sie ein Organ entwickelt, welches diese Transformation erleichtert. Vielleicht sind sie deshalb da - ohne die Kraft zur materiellen Gestaltung, weil sie die Aufgabe haben, die Materialisierung unserer destruktiven Gedanken zu verhindern. Vielleicht halten sie unsere Gestaltungs- und Verwirklichungskraft im Gleichgewicht." Bis zwei Uhr nachts segelten wir zwischen Porto Santo und Madeira auf und ab. Es war magisch. Ulisses und Ben versuchten durch Kursänderungen näher an die Wale heranzukommen. Mal wurde das Klicken lauter, dann wieder leiser. Ben schwankte zwischen Euphorie und Resignation, Angst und Jubel. Die Großen Tümmler kamen zu einem Zeitpunkt, als wir uns schon entschieden hatten, bald den Motor zu starten und Kurs auf unseren Ankerplatz zu nehmen. Die Tümmler machten ein unglaubliches Spektakel. Unsere Tonanlage kam an ihre Grenzen. Manchmal klang es als würden sie unsere Sprache nachahmen, dann wieder knatterte es wie ein Motorrad ohne Schalldämpfer.

 Als die Delphine weg waren, hörten wir wieder das konstante Klicken der Pottwale. Manchmal drei, dann einen und dann wieder vier. Die Nacht schärfte das Gehör. Wir sahen die Delphine schemenhaft vor dem fast vollen Mond, der als riesiger Goldball aus dem Meer aufgetaucht war. Gegen zwei Uhr zogen wir das Hydrophon an Deck. Um drei Uhr waren wir am Ankerplatz. Erschöpft, aufgewühlt, sprachlos. Ein Fazit für mich: "Die Begegnung mit den Pottwalen, diesen großartigen Wesen, führte uns in Tiefen unseres Unterbewußtseins, denen wir noch nicht gewachsen waren." Am Tag danach blieb das Meer absolut still. Kein Pfeifen kein Klicken. Nichts. Ulisses war enttäuscht, daß wir gestern nicht bei den Pottwalen geblieben waren. Die Energie der Pottwale wirkte auf jeden von uns unterschiedlich. Ulisses war total aufgedreht, ich hingegen erschöpft. Wir reflektierten die nächtliche Begegnung in Form einer Sprechstabrunde. Ben sprach von seiner Angst und Ehrfurcht den Pottwalen gegenüber. Der Klangraum und die Anwesenheit der großen Wale trug dazu bei, daß unser Unbewußtes ans Licht kam. Uns alle hatte in der Nacht eine Sehnsucht erfaßt, die tief in uns rührte und nach voll gelebtem Leben verlangte.

 



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