EDITORIAL

Zu den Daueraufgaben der Wissenschaft und damit auch dieser Zeitschrift gehört die Kritik von Publikationen, deren Autoren mit großer Geste ganze Wissensbereiche neu zu ordnen versprechen - in diesem Falle durch die Streichung von drei Jahrhunderten mittelalterlicher Geschichte. Davon handelt der zweite Beitrag von Rudolf Schieffer zu diesem Heft. Wer sich nach der Lektüre dieses Artikels fragt, wie es möglich sei, daß ein so offensichtlich unsinniges Buch viele Leser findet, wäre daran zu erinnern, daß Illig Vorgänger hat - den einstigen Volksschullehrer Wilhelm Kammeier, der nicht nur drei Jahrhunderte, sondern das ganze Mittelalter als das Resultat einer klerikalen Fälschungsaktion ausgab und dessen Schriften ein obskurer Verlag noch vor wenigen Jahren anbot (siehe Horst Fuhrmann: Überall ist Mittelalter. München 1996, S. 244 ff.), oder den Volkskundler Walther Steller, der die slavischen Völker für die Frucht eines im 19. Jahrhundert begangenen Irrtums hielt (siehe Wolfgang H. Fritze: Frühzeit zwischen Ostsee und Donau. Berlin 1982, S. 31 ff.) und damit großen Anklang bei Vertriebenen-Organisationen fand.
Selbstverständlich sind es nicht nur geschichtliche Sachverhalte und Probleme, die zum Stoff von Autoren dieses Kalibers werden. Die entsprechenden medizinischen Thesen zum Beispiel sind jedermann bekannt. Eine Phänomenologie des Dilettantismus - im negativen Wortsinne - hätte nicht nur Monomanie und die Abwesenheit von Selbstkritik zu nennen, sondern auch eine gehörige Portion von Wissenschaftsfeindschaft. Die Fachleute sind in Betriebsblindheit befangen, falls sie nicht sogar womöglich in Verschwörung die bessere Einsicht unterdrücken, bis der geniale Außenseiter mit der zündenden Idee den Durchbruch erzielt und, mit Mephisto zu reden, in der Lage ist, die Welt "aus einem Punkte zu kurieren".
Vielleicht hat man es hier mit der Kehrseite des modernen Wissenschaftsbetriebes zu tun, der nur noch auf fachinterne Dialoge zielt und auf diese Weise der Scharlatanerie das Feld überläßt. Oder darf man hoffen, daß die Dinge bei der Geschichtswissenschaft - und gerade auch bei der mittelalterlichen Geschichte - doch ein wenig anders liegen? Der erste Beitrag Rudolf Schieffers zu diesem Heft sollte, so hoffen die Herausgeber, als ein Beispiel dafür verstanden werden können, daß es auch heute möglich ist, zentrale und schwierige historische Sachverhalte dem Nicht-Spezialisten durch den gelehrten Spezialisten nahezubringen.

Hartmut Boockmann (+1998)

zu Chladek im Netzzur EinleitungDer reale KarlDie WissenschaftEditorial BoockmannRezension SchiefferIlligs ZitierweiseIllig-Vortrag in KölnBrief von Sven SchütteKarolingische Fundezu Seibers Tischler (Einhard)Nachleben Karls

Titel GWU


Erstellt am 4.5.1998.

Geändert am 20.2.2010.

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