Ein Staat wie eine Fata Morgana

Seit 25 Jahren schwelt der Westsahara-Konflikt, nun wächst in den Flüchtlingslagern die Gefahr eines neuen Krieges

erschienen in: Frankfurter Rundschau, 12.06.2001
Autorin und © Ute Sprenger

"Caramelos! Caramelos!" Lärmend und hüpfend umzingeln magere Kinder vor der Silhouette verschossener Zelte eine Touristin aus Deutschland, zupfen ihr Kekse und Bonbons aus der Hand und verschenken dafür brav dankbare Blicke. Kann man auch in Flüchtlingslagern den grotesken Urlaubsgebahren reicher Länder begegnen? Man kann! Zumindest in den Lagern der Frente Polisario in der algerischen Wüste. Die Camps liegen tief im Südwesten des Maghreb, wo es nicht mehr viel anderes gibt als Sanddünen und Geröll. Im Garnisonsstädtchen Tindouf bildet Algier seine Rekruten aus. Unweit wird etwa 150 000 Menschen, die sich marokkanischer Fremdherrschaft in der Westsahara widersetzen, seit gut einem Viertel Jahrhundert Zuflucht gewährt.

In diesem Februar begingen die Flüchtlinge das 25-jährige Jubiläum ihres eigenen Staates, der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) - ein Staat, der auf einen toleranten Islam und der Trennung von Religion und Politik besteht, der aber bislang nur als eine Art Fata Morgana existiert. Denn Marokko hält das Gebiet der ehemaligen Kolonie Spanisch-Sahara seit 1975 widerrechtlich besetzt. Etwa die Hälfte der saharauischen Bevölkerung floh ins algerische Exil.

"Durch Gottes Hilfe und die Unterstützung des algerischen Staates haben wir all die Jahre durchgehalten", sagt Khalil Sid M'Hamed, Chef des Lagers El Aaiun. Aber auch die humanitäre Hilfe internationaler Organisationen und der Einsatz von Solidarititätsgruppen aus Spanien, Frankreich, Deutschland, Österreich oder der Schweiz ermöglicht dem saharauischen Volk das Überleben. Die Frauen sorgen dafür, dass der Alltag in den "Dairas", den Dorfgemeinschaften, klappt und dass die Hilfslieferungen dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Sie arbeiten als Krankenschwestern, Ärztinnen, Kindergärtnerinnen, Grundschullehrerinnen, einige auch in der Politik. Die Männer sind überwiegend in der Armee, in der politischen Führung und in der Verwaltung tätig.

Es heißt, es seien die bestorganisierten Flüchtlingslager der Welt, frei von Krankheiten, die anderswo in afrikanischen Lagern grassieren, mit allgemeiner Schulpflicht und Gesundheitsdiensten, Werkstätten und einer basisdemokratisch orientierten Verwaltung. Und mit eben jenen Revolutionstouristen, die die Polisario in Scharen durch die Lager schleust. Immer in der Hoffnung, dass die Besucher aus Süd- und Westeuropa am Ende verstehen, was sie sehen, und als Botschafter der Sache des saharauischen Volkes fungieren.

"Wir haben als Befreiungsorganisation einen Exilstaat geschaffen, ein Modell, das in eine neue Gesellschaft transferiert werden kann. Aber wir haben keine Souveränität", klagt Hadidja Hamdi, verantwortlich für Kultur und Weiterbildung in der Polisario. "Einige Staaten leisten humanitäre Hilfe an uns und gleichzeitig politische Unterstützung an Marokko. Wir sind ja nicht dagegen, dass die EU mit Marokko zusammenarbeitet. Wir sind aber wohl dagegen, dass sie Marokko nicht unter Druck setzt, eine Lösung zu finden." Stattdessen würden mit der Besatzungsmacht Abkommen ausgehandelt, etwa im Fischereiwesen - "auf saharauischem Gebiet und auf unsere Kosten." Das Leben in den Lagern zu erleichtern sei eine Sache. Aber Staaten wie Frankreich, Deutschland, Italien könnten politisch mehr tun.

Während jedoch die internationale Gemeinschaft die Vertriebenen in den Lagern und fernab des öffentlichen Interesses jahrein, jahraus alimentiert, hält man sich seltsam bedeckt, wenn es um das vom Weltsicherheitsrat verbriefte Recht auf Selbstbestimmung des kleinen Wüstenvolkes geht. Mehr noch: Ob Frankreich, die USA, Spanien oder Britannien - alle haben die Monarchie in Rabat wiederholt militärisch aufgerüstet und verhindern damit eine politische Lösung dieses Regionalkonfliktes. Bis heute betrachtet Marokko Westsahara als "assimilierte Provinz". Menschenrechtsgruppen berichten von Bespitzelung, willkürlichen Verhaftungen und Folter in den besetzten Gebieten. Dort regiere die Angst, sagt Hadidja Hamdi.

Auch wenn in den Flüchtlingslagern vielerorts heute neben den Zelten Häuser aus Lehmziegeln stehen, Heimat sind sie nicht geworden. Zu unwirtlich ist dieser Teil der Sahara mit extremen Temperaturen, Sandstürmen und immer wiederkehrender Wasserknappheit. Im Sommer steigt das Thermometer tagsüber bis auf 50 Grad, und die Nächte sind empfindlich kühl. Der Sand- und Geröllwüste ist nur mühsam etwas abzuringen. Und zu lebendig auch ist unter den Vertriebenen dieses ehedem nomadischen Volkes der Wunsch nach Rückkehr in die Westsahara. "Es hat die Entkolonisierung von Spanien gegeben. Und wie die anderen ehemaligen Kolonien haben wir das Recht, frei zu leben und unabhängig zu sein", sagt Khalil Sid M'Hamed. "Es gibt keinen Grund dafür, dass uns das vorenthalten wird."

So ist Öffentlichkeit und Solidarität bitter nötig. Stecken doch die Verhandlungen zwischen Rabat und der Polisario in einer Sackgasse. Seit 1991 herrscht ein fragiler Waffenstillstand mit Marokko. Dieser droht nun zu enden, denn er war an eine Volksabstimmung unter Aufsicht einer UN-Mission (Minurso) geknüpft. Die Saharauis sollten darüber entscheiden, ob sie in einem eigenständigen Staat oder unter dem marokkanischen Königshaus leben wollen. Doch dieses Referendum kommt nicht vom Fleck, weil die Regierung in Rabat einen fruchtlosen Streit um Registrierung und Wählerlisten führt.

Das letzte Mal schien es 1997, als stünde man kurz vor einem Durchbruch. James Baker, UN-Beauftragter für die Westsahara, erzielte ein Abkommen über den Zensus. Ein Termin für ein Referendum wurde für 1999 angesetzt, vorläufige Wählerlisten veröffentlicht, und das UNHCR bereitete die Rückführung vor. Aber dann kam der Friedensprozess erneut zum Erliegen. Zehntausende Marokkaner legten Widerspruch gegen ihre Streichung aus den Wählerlisten ein. "Wir haben vor zehn Jahren den Krieg unterbrochen, um ein Referendum durchzuführen. Und sehen Sie, wo wir heute stehen: Die UN warten darauf, dass Marokko Zugeständnisse macht. Doch Marokko blockiert alles", sagt Khalil Sid M'Hamed. Der Gouverneur des Lagers El Aaiun gehört zur Gründergeneration der Polisario und war bis vor kurzem Erziehungs- und Innenminister. "Meiner Regierung wurde das Vertrauen entzogen, weil die Leute sagten: Zehn Jahre sind wir einem Referendum hinterhergelaufen, und es ging nicht voran."

Doch verbittert ist man in den Lagern vor allem über die UN, von der viele sich betrogen fühlen, weil die sich nicht mehr ernsthaft für eine faire Lösung einsetze. Tatsächlich scheint Marokkos Hinhaltetaktik Erfolg zu haben. Generalsekretär Kofi Annan und sein Sonderbeauftragter für die Westsahara rücken zusehends vom Selbstbestimmungsrecht für die Saharauis ab und setzen auf einen Marokko genehmen Weg. Dieser so genannte "Dritte Weg" sähe eine Autonomie unter marokkanischer Ägide vor. In Berichten an den Sicherheitsrat ist nur noch von "Dezentralisierung der Machtbefugnis" die Rede.

Unterdessen steigt die Spannung in den Lagern. Besonders die hier geborene Generation hat genug von der Hoffnungslosigkeit in der algerischen Einöde. "Die Jugend fragt uns: Wie lange noch wollt ihr die Hand ausgestreckt halten?" sagt Khalil Sid M'Hamed. Als Ende letzten Jahres Marokko der Rally Paris-Dakar die Durchfahrt durch die besetzten Gebiete genehmigte, forderten vor allem Jugendliche die Polisario auf, den militärischen Kampf wieder aufzunehmen. Und viele im Ausland Studierende oder Lebende erklärten sich bereit zurückzukommen, um zu den Waffen zu greifen, berichtet Hadidja Hamdi. "Niemand hier will den Krieg. Aber wir sehen, dass Marokko den Friedensprozess immer weiter verzögert. Wenn uns also niemand helfen kann, einen friedlichen Weg zu finden, dann glaube ich, dass wir Krieg haben werden." Noch aber hofft man bei den UN wohl auf ein Einlenken Marokkos. Ende April wurde das Minurso-Mandat für zwei Monate verlängert.

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