Wandersegelflug 2008

Zweiter Teil:
Erbendorf – Grambecker Heide

von Jan Lyczywek

[IGC-Datei dieses Fluges]
[OLC-Seite dieses Fluges]

Der Morgenhimmel über dem Fichtelgebirge zeigt sich in jenem klaren, aber ein wenig gedämpften, etwas wärmeren Blau, das immer einen guten Thermiktag verspricht. Beim Frühstück wird uns bewußt, daß das Abenteuer Wandersegelflug nun tatsächlich begonnen hat. Wir zeigen Stefan die Fotos des gestrigen Fluges – war das wirklich erst gestern? Schon die Bilder, Erinnerungen und Empfindungen des ersten Tages unserer Reise zu verarbeiten und innerlich einzuordnen, wird mehr als nur einen Tag Abstand und Ruhe verlangen. Für den Moment speichern wir sie im Gedächtnis ebenso wie auf den Festplatten ungeordnet weg.

Wir sind immer noch in Bayern. Doch der Eindruck, ganz unglaublich weit geflogen zu sein, speist sich weder aus den geloggerten OLC-Kilometern noch aus der Position auf der Karte. Auch dieses Gefühl wird uns die nächsten zwei Wochen Tag für Tag begleiten.

Tatsächlich kommt bald der versprochene Kaffee und wir setzen uns an die Flugplanung. Rainer hat eine kleine, nicht einmal DIN-A-3-große Reliefkarte von Deutschland gekauft. Erst eher als Gag belächelt, erweist sie sich nun als wertvolle Planungsgrundlage. Wenn man die Mittelgebirge mit den Fingern abtasten kann, prägen sie sich viel plastischer ins Gedächtnis ein und das Ineinandergreifen der einzelnen Höhen erschließt sich wie ein Labyrinth aus der Vogelperspektive. Wir wollen weiter nach Norden. Der Thüringer Wald wird uns bis Eisenach nach Nordwesten führen. Von dort können wir dann auf direktem Nordkurs an den Harz springen. Danach wartet plattes Land und die Lüneburger Heide mit ihren Sandböden – wenn wir überhaupt so weit kommen.

Früh ist ein Schlepppilot da. Ganz so eilig haben wir es gar nicht, denn in völlig fremdem Gelände wirkt sich nichts so sehr auf das Vertrauen in den Tag und sein Wetter aus wie der allererste Bart. So haben wir Zeit, den selbstgebauten Kitfox unseres Schleppers zu bewundern. Aus dem beliebten Bausatz hat er ein echtes Schmuckstück gezaubert, mit makellosem Finish und perfekt bis ins Detail. Unser Freund ist zu recht stolz darauf und wir freuen uns mit.

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Thüringer Wald


Dann zieht er uns hinter einer Jodel mit markanter, dreieckiger Seitenflosse an den Himmel. Um elf Uhr klinken wir in komfortablen anderthalb Metern. Die Basis liegt hoch, Fichtelgebirge und Thüringer Wald zeichnen sich als Wolkenbahnen am Himmel ab. Die Senken links und rechts der Mittelgebirge aber liegen unter einer bräunlichgrauen Dunstschicht im ratlosen Blau. Deutlicher könnte unser Flugweg nicht vorgezeichnet sein. Dennoch bleiben wir vorsichtig und hoch. Die Wälder sind ausgedehnt und die Täler schmal, doch aus unserer Höhe müssen wir uns keine Sorgen machen. Oberhof mit den Sprungschanzen und dem einst so exklusiven Interhotel zieht unter uns durch.

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Oberhof

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Dunst…

Bei Eisenach drehen wir über den letzten Waldhügeln in zwei Metern auf. Dann gleiten wir ins Ungewisse. Voraus schwimmen dünne, kurzlebige Cumuli auf der Dunstschicht. Doch das Flachland läßt uns nicht im Stich. Bald haben wir heraus, daß selbst die kleinsten Buckel noch als Auslöser funktionieren, fast wie zuhaus. Nach eineinviertel Stunden haben wir die Lücke hinter uns, ohne einen einzigen Tiefpunkt. Der Harz wartet wieder mit kräftigen Cumuli auf und ist uns einen kleinen Kursschwenk wert. Aus 2100 Metern reicht er uns weiter an die norddeutsche Tiefebene. Wir sind immer mehr beeindruckt von der landschaftlichen Anmut und Vielfalt Deutschlands, die uns auf diesem einen Flug schon begegnet ist. Und doch sind wir allein und freuen uns, als wir eine einsame, wunderschöne Ka6E treffen. Sie ist erst das zweite Flugzeug, dem wir an diesem prachtvollen Tag begegnen.

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Ka6E

Bei Salzgitter erleben wir zum ersten Mal, was Industriethermik ist. Ein schmutzigbrauner Moloch aus Hallen, Gleisen und Kaminen schickt drei Meter nach oben. Wir nehmen die achthundert Höhenmeter gerne mit.

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Salzgitter

Nun können wir dem Kompaß und den Wolkenstraßen fast genau nach Norden folgen. Im Doppelsitzer kann man unglaublich viel lernen. Schnell hat sich zwischen uns eine sehr effiziente Art der Kommunikation eingespielt. Der ‚Pilot Flying’ erläutert seine Ideen, kommentiert jeden Kursschwenk, begründet jede noch so kleine Entscheidung bis hin zur Richtung des Eindrehens in den Bart. Der ‚Pilot Non Flying’ liefert Beobachungen, Alternativen, aber auch Kritik und macht nebenher die Navigation. Beide nehmen sehr aktiv an der Gestaltung des Fluges teil. So ist es fast gleichgültig, wer gerade steuert.

Gegen halb fünf überqueren wir einen breiten Fluß. Unzählige Buhnen schützen seine Ufer. Die Elbe! Nördlich wartet eine sichtbar andere Luftmasse, trüber, feuchter, undurchschaubar auch im übertragenen Sinne. Ob das die berüchtigte Seeluft ist? Doch noch gibt es Cumuli und wir wollen das Meer sehen. Also fliegen wir weiter. Um fünf steigen wir ein letztes Mal über 1800 Meter. Was tun? Wenn wir jetzt umdrehen, haben wir eine Chance, wieder nach Süden an die guten Wolken zu kommen, die uns hierhergebracht haben. Dann könnten wir Rainer ein Stück entgegenfliegen und gewiß noch zwei Stunden lang OLC-Kilometer sammeln. Aber darum geht es nicht und die Ostsee lockt. Also gleiten wir ab, bis wir die Küste im Dunst erahnen können. Lübeck könnten wir sicher erreichen. Wir fragen den Tower nach einem F-Schlepp für den morgigen Tag. Der freundliche Controller ruft eigens beim örtlichen Segelflugverein an und funkt zurück, leider sei die Schleppmaschine kaputt. Jetzt brauchen wir schnell eine Entscheidung. Nur ein anderer Platz ist in Reichweite, ein kleines Segelfluggelände namens Grambecker Heide. Wir haben schon einmal Glück gehabt mit einem kleinen Platz. Entschlossen drehen wir ab.

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Die Elbe

Der Endanflug scheint sicher und wir sind sogar optimistisch, doch noch an eine der Wolken im Süden zu kommen. Doch der schwache, aber stete Südwind zerschmilzt die Höhe und das feuchte, von Seen durchzogene Land schickt keine Thermik mehr in die tote Seeluft. Der Anflug wird spannend. Stefan fliegt konzentriert und ruhig, nimmt jeden möglichen Thermikauslöser mit. Sein Blick springt von Wiese zu Wiese. Ich gebe vom hinteren Sitz die große Richtung vor und verfolge den PDA, der seine Prognose unserer Ankunftshöhe kontinuierlich nach unten korrigiert. Fünf Kilometer vor dem Platz sind wir noch knappe 250 Meter hoch. Ein Kiefernwald liegt quer vor uns. Sollen wir ihn überqueren? Sicherer wäre eine Außenlandung auf einer der großen Wiesen vor dem Wald, doch der Platz müßte eigentlich direkt dahinter liegen. Wir merken uns die beste Wiese und die Anflugrichtung. Dann gleiten wir weiter. Der Wald ist breit, viel breiter als erwartet. Wir werden ihn nicht übergleiten können. Unmittelbar vor uns taucht eine langgezogene, rechteckige Lichtung auf, groß wie ein Flugplatz. Keine Hallen, kein Windsack, aber Reifenspuren, immer längs. Ist das der Platz? Ganz egal. Wir haben keine 150 Meter mehr und das gelbgebrannte, kurze Gras sieht bestens landbar aus. Wir besprechen das Anflugverfahren, direkt in den Gegenanflug, ausnahmsweise kurzer Queranflug rechtsherum und dann mit Wind von rechts vorne zwischen die Kiefern. Stefan arbeitet still und professionell. Jetzt, wo die Entscheidung getroffen ist, habe ich noch im Landeanflug Zeit und Ruhe, die Moving Map näher heranzuzoomen und bin erleichtert: die Lichtung ist tatsächlich nichts anderes als unser Flugplatz.

Sanft schwebt die DG aus und rollt vor zwei Blechhallen aus, die sich am Waldrand zwischen den Kiefern verstecken. Jetzt sehen wir auch den Windsack auf einer hohen Stange. Als sich die Hauben öffnen, berühren sich für einen magischen Moment zwei Welten: die vertraute unter den Wolken mit ihrer Weite, ihren taktischen Entscheidungen der letzten Stunden und die neue, unbekannte, kleine Welt dieses Platzes zwischen den Bäumen, voller Geräusche und Gerüche. Wir steigen aus wie Marsmenschen aus ihrem Raumschiff.

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Der "Waldflugplatz" Grambecker Heide

Sandig und ausgedörrt ist der Boden, sommerlich warm die Luft trotz des Windes. Die Szene könnte sich bei oberflächlicher Betrachtung auch in Afrika oder Australien abspielen. Und wieder dieser Effekt, der staunen macht: sind wir wirklich erst heut morgen in der Oberpfalz gestartet?

Der Flugplatz ist menschenleer, die Hallen verschlossen. Unter den Kiefern finden wir ein kleines Clubheim. Es wirkt verlassen wie der ganze Platz. Hinter der Scheibe hängt ein verblichener Zettel, auf dem jemand die Werbefläche seines Hängers anpreist, darunter eine Handynummer. Es ist die einzige Telefonnummer, die wir finden und auf gut Glück rufen wir an.

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Rainer ist auch angekommen…

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… und fängt gleich an zu arbeiten.


Stefan hat seinen ersten Satz – „Wir sind auf Wandersegelflug unterwegs und bei Euch…“ noch nicht beendet, da unterbricht ihn schon Begeisterung am anderen Ende der Leitung: leider habe er selbst keine Zeit, aber er werde sofort seinen Vater anrufen, der solle sich um uns kümmern, und auch einen weiteren Kameraden, der werde uns den Clubhausschlüssel bringen.

Man stelle sich diese Hilfsbereitschaft vor! Fast sind wir ein bißchen beschämt: würden wir selbst auch so offen, so entgegenkommend auf ein paar dahergeflogene Fremde an unserem Platz zugehen? Oder auf Gäste und Urlaubsflieger? Unwillkürlich muß ich an Wolf Hirth denken, der auch den Begriff des Wandersegelfluges prägte und an anderer Stelle in seinen „Zwölf Geboten für Segelflieger“ schrieb:

„Man muß euch Segelflieger nicht nur an den weißen Möwen auf blauem Grunde erkennen, sondern an dem helleren, freieren Blick, der immer hilfsbereiten Kameradschaft, dem völligen Mangel an Eitelkeit und kleinlicher Gesinnung...“

Kurz darauf kommt Heinz mit seinem Elektrofahrrad angestrampelt, wenig später fährt Wulf vor. Die beiden kümmern sich rührend um uns. Unser Vogel wird in die kleine Halle gezaubert, das Clubhaus öffnet sich und Dusche, Küche, Bierkühlschrank und Eistruhe stehen uns offen. Der kleine, auf den ersten Blick so verschlafene Platz entfaltet eine unglaublich selbstverständliche und umfassende Gastfreundschaft, die ihn belebt und beseelt.

Die Sommersonnenwende liegt noch nicht lang zurück und hier im Norden wird es um diese Jahreszeit tatsächlich nicht richtig dunkel. Im Kopf läuft der Film des Fluges weiter und wir sitzen noch lange draußen unter den Kiefern. Was für ein Privileg, eine solche Reise unternehmen zu dürfen!

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Das Clubheim von außen …

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… und von innen.

Weiter mit dem dritten Teil


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