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Reisebilder: Kaffeehäuser in Wien
Inseln der Langsamkeit
Beobachtungen in Wiener Kaffeehäusern
von Michael Bienert
In einem deutschen Café Kellner zu sein, ist ein Job, im günstigsten Fall eine Profession. In Wien ist es ein Schicksal. Die Herren Ober sind davon gezeichnet. Steif und gravitätisch ziehen sie ihre Bahn zwischen den schmalen Kaffeehaustischen Ihr schwarzer Anzug duldet keinen Krümel und keinen Fleck, aber ihre Gesichter sind faltig und fleckig, die Haut rauh und ohne die Glätte, die vor Verwitterung schützt.
Im Habitus des Wiener Obers sind Pedanterie und Nachlässigkeit eine unauflösliche Verbindung eingegangen. Es kommt vor, daß ein Kellner sich gegen Abend den Schlips abbindet und in alkoholisiertem Zustand mit offenem Hemdkragen serviert. Er kann das riskieren, denn das Ober-Sein ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er auch in sturzbetrunkenem Zustand sicher sein kann, nicht aus der Rolle zu fallen.
Daß ein Vollblutober die Institution Kaffeehaus dem Gast gegenüber vertritt und nicht irgendeine Aushilfskraft, wenigstens aber ein Piccolo, der niedrigste Rang in der strengen Kellnerhierarchie, gehört zu den unumstößlichen Regeln des Wiener Kaffeehauswesens. Sie schreiben fest, daß der Kaffee stets mit einem Gläschen Wasser auf einem silbernen Tablett serviert wird. In einem richtigen Kaffeehaus liegt das Löffelchen zum Umrühren nicht irgendwo, sondern auf den Rändern des Wasserglases. Das Wasser, haben Wiener Kaffeehaushistoriker erforscht, dient keineswegs der Verdünnung oder Verdauung, sondern symbolisiert die Hochschätzung des Gastes. Die schöne Sitte stammt aus dem Orient, wo der Kaffee heimisch und Wasser ein besonders rares Element ist. Mit der kostenlose Beigabe der kostbaren Flüssigkeit gibt der Wirt dem Gast zu verstehen, wie viel er ihm wert ist.
Ebenso versteht sich, daß der Ober die Namen der Stammgäste und ihre Vorlieben kennt. "Der Herr Rat Soundso" ruft er den Kollegen beim Eintreten einer dem Haus besonders verbundenen Person zu, und schon weiß es das ganze Cafe. Statistische Erhebungen haben ergeben, daß vier von fünf Besuchern sich als Stammgäste fühlen. Fast die Hälfte der Besucher sitzt täglich im Kaffeehaus. In Wien bevölkern sie rund 1700 Cafes, nicht eingerechnet die Restaurants und die Beisln (Kneipen).
Das Wiener Kaffeehaus kennt viele Legenden. Um die Jahrhundertwende der wichtigste Ort des literarischen Gesprächs, wurde es zur Brutstätte der Moderne. Gestalten wie Peter Altenberg fallen einem ein, der seine Postadresse ins Cafe Central verlegte, weil er dort am sichersten anzutreffen war. Oder der Ausspruch des k. u. k. Kriegsministers, der auf die Nachricht vom Ausbruch der Oktoberrevolution ungläubig ausgerufen haben soll: "Ja, wer soll denn in Rußland Revolution machen? Vielleicht der Herr Trotzki aus dem Cafe Central?"
Man pflegt den Mythos - im Cafe Central sitzt heute eine Puppe, die Altenberg darstellt. Doch läßt das Etablissement sich seinen Namen so teuer bezahlen, daß sich dort gewiß kein Literat mehr festsetzt. Hier wie anderswo im Wiener Zentrum findet man bloß die stäubchenfreie Nachinszenierung verschollenen Glanzes. Die bezaubernde, weil ganz alltägliche Kaffeehauskultur beginnt dort, wo die touristische Neugierde erlahmt, an den Rändern des zentralen 1. Bezirks. Das Cafe Museum, das Cafe Sperl, das Cafe Haag sind die Ausfalltore, jenseits derer der Wiener Kaffeehausalltag beginnt.
Ein unentbehrliches Requisit der Kaffeehausbesucher sind die Zeitungen. Das Pressebuffet ist so reichhaltig, daß es wie die Vitrine mit den Torten und Strudeln nie leer wird. Beim Zeitungsangebot herrscht eine Liberalität und ein Kosmopolitismus, für den die Wiener sonst nicht gerade berühmt sind. Im wenigen Lokalen wie dem Bräunerhof, dem Stammlokal Thomas Bernhards, liegen auch Bücher aus. Wer einen Kleinen Braunen bestellt, erwirbt das Recht, bis zum Abend zu sitzen und alle Zeitungen zu lesen, ohne mehr konsumieren müssen. Das freut den Gast und ärgert die Zeitungsverleger.
Das Kaffeehaus ist ein Ort für jedermann. Wien kennt nicht die schreckliche Aufspaltung in Generationen, Szenen, Cliquen, die beispeilsweise das Berliner Kneipenwesen auszeichnet. Alte Damen schleppen sich mit letzter Kraft ins Kaffeehaus, Arbeiter, Studenten und Yuppies sitzen einträchtig nebeneinander. Die Mehrzahl der Besucher ist jünger als das Personal. Auch Randexistenzen werden geduldet. Das Kaffeehaus ist ihnen Wärmestube. Immer sitzt irgendwo ein Armer in eine Bank geschmiegt und schläft, oder ein Irrer redet stundenlang laut auf unsichtbare Gäste ein. Wo Billardtische stehen, spielen Menschen stundenlang mit sich selbst. Sonderbares Betragen des Nachbarn allein ist noch kein Grund, sich gestört zu fühlen. Jeder Kaffeehausbesucher besitzt eine Privatsphäre, innerhalb derer er tun und lassen kann, was ihm beliebt, solange er die der anderen Gäste nicht verletzt. So fühlt man sich auch in der Öffentlichkeit des Kaffeehauses geborgen.
Die verbreitete Unsitte, das Publikum mit Musik vom Band zu bedudeln, hat im Kaffeehaus noch nicht Einzug gehalten. Dadurch bleibt der Geräuschpegel auf einem erträglichen Niveau. Niemand muß schreien, um sich verständlich zu machen. Die diffuse Geräuschkulisse steigert die Konzentration: Es ist leichter, im Kaffeehaus zu schreiben als in einer stillen Wohnung, wo man jedes vorbeifahrende Auto als Störung empfindet. Kaffeehausluft sei die beste Luft, meint Leopold Hawelka, der mit achtig Jahren noch täglich in seinem dichtbesetzten Lokal arbeitet. Sie wirkt ungemein stimulierend. Obwohl in allen Kaffeehäusern geraucht wird, kann man auch als Nichtraucher überall mühelos atmen. Doppelte Eingangstüren verhindern, daß es zieht. Die Architekten der Jahrhundertwende wußten noch, wie man ein Lokal so baut, daß eine große Menschenmenge sich darin wohl fühlt.
Es gibt Kaffeehäuser mit prunkvollen alten Interieurs wie das Sperl und nicht weniger beliebte, die wie das Museum mit ziemlich abgenutztem Nachkriegsmobiliar bestückt sind. Überall findet sich Kitsch in den Bilderrahmen, keins ist frei von Stilbrüchen. Entscheidend für den Ruf eines Kaffeehauses ist nicht sein Styling, sondern seine Benutzbarkeit. Was sich einmal darin eingefunden und bewährt hat, das wird gepflegt, auch wenn es altmodisch aussieht. Darin drückt sich eine konservative Haltung den Dingen gegenüber aus, keine Nostalgie. Was alt ist, wird bewahrt, nicht weil es alt ist - das wäre Nostalgie -, sondern weil es funktioniert. Es wird nicht entwertet, bloß weil es aus der Mode ist und benutzt aussieht. Es wird auch nicht aufpoliert, so als sei es nie gealtert.
In jedem Kaffeehaus hängt eine große Uhr, wie man sie von Wartesälen und Bahnsteigen kennt. Selten ist sie intakt. Im Cafe Haag ist sie ganz stehengeblieben, im Cafe Museum hängt eine kleinere Uhr in der Mitte des großen Ziffernkranzes, und auch im Bräunerhof ist die alte Bahnhofsuhr vor zwanzig oder dreißig Jahren durch eine leistungsfähige Küchenuhr ersetzt worden. Als die Menschen noch mehr Muße hatten, mag es schick gewesen sein, im Kaffeehaus jederzeit über die genaue Uhrzeit informiert zu sein. Heute ist es so, daß überall in der Stadt zuverlässige Uhren hängen, nur im Kaffeehaus gehen sie falsch oder gar nicht. Und auch die mitgebrachten Armbanduhren verlieren an Bedeutung. Wer ins Kaffeehaus kommt, muß warten können, der muß die Bereitschaft zur Muße mitbringen. Jedes Kaffeehaus ist eine Zeitoase, in der die durchrationalisierte Zeit der modernen Gesellschaft aufgehoben ist.
In den gelbbraunen Interieurs wirkt das Licht aus den altmodischen Lampen, noch ehe es die Dinge trifft, vergilbt. Die Zeit dehnt sich. Jeder Ober weiß, daß es seine Pflicht ist, langsam zu sein. Wer Ober, zahlen! ruft, der wird noch lange nicht bedient. Der Ober läßt ihn warten, nicht weil er zu tun hat, sondern aus Prinzip. Er läßt dem Gast Zeit, sichs nochmal zu überlegen, ob er sich aus der Zeitoase wirlich in die Hektik draußen stürzen muß. Pflichtschuldig liefert er dem Gast den Vorwand für die Verspätung, die sein zeitlich geordnetes Leben außerhalb der Kaffeehausmauern durcheinanderbringt.
Erstdruck im LITERATURBLATT FÜR BADEN UND WÜRTTEMBERG, Nr. 6/1995
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