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Michael Bienert



Reisebilder: Usedom


Spuren am Strand
Literarische Entdeckungen auf Usedom

von Michael Bienert

Diesen Sommer werden wir mit den Kindern in einer hundertjährigen weißen Sommervilla an einer buckeligen Straße wohnen, die zum Strand abfällt. Die fröhlich verspielte Bäderarchitektur aus Kaisers Zeiten mit ihren Loggien, Säulchen und Giebelchen wird uns heiter stimmen, der Wind in den Haaren zausen und die Ostsee uns frösteln lassen. Egal wie das Wetter wird, täglich werden wir den schwer bepackten Kinderwagen ans Meer schieben, gigantische Sandburgen schaufeln und Drachen steigen lassen. Einmal im Jahr will sich der berufstätige Großstadtmensch dumm und faul im Sand vergraben, möchte keine schlechten Nachrichten hören und so tun, als wäre die Welt in Ordnung.

Dieses Bedürfnis hat der Insel Usedom, auf der bis ins vergangene Jahrhundert wenige Bauern und Fischern ein karges Leben führten, einen stabilen Wohlstand beschert. Nach zaghaften Anfängen boomte der Bädertourismus vor gut hundert Jahren, als sich die Reisezeit zwischen Berlin und der vorpommerschen Insel durch die Eisenbahn auf vier Stunden verkürzte. Das Fischernest Heringsdorf erblühte zu einem mondänen Vorort wohlhabender Berliner, und an den Sandstränden links und rechts entstanden aus dem Nichts neue Seebäder wie Ahlbeck, Bansin und Zinnowitz.

Jeden Sommer ließ sich der Kaiser auf der Seepromenade blicken, der Erb- und Geldadel baute pompöse Villen, in schnell hochgezogenen Hotels und Pensionen logierten weniger betuchte Familien, Künstler und Schriftsteller. Bereits 1897 seufzte der Feuilletonist Alfred Kerr angesichts des frühen Massentourismus in Heringsdorf, dort treffe man genau die Gestalten, vor denen man in Berlin geflohen sei: "Das macht Toiletten und schwatzt und schreit und benimmt sich auffallend und verunreinigt mit Protzentum die anständige Seeluft. Den gesundesten Ekel, der unter leidlich normalen Verhältnissen möglich ist, kann man sich dort holen. Und man verläßt den grotesken Ort mit Beschleunigung. Und dann erholt man sich in Berlin von den Strapazen der Sommerfrische."

Heringsdorf protzt noch immer. Nicht nur die prächtigen Villen wurden nach dem Ende der sozialistischen Zwangsbewirtschaftung reprivatisiert und herausgeputzt, die Gemeinde hat auch eine neue Seebrücke mit Einkaufspassage ins flache Meer hinaus bauen lassen. Ein häßliches Ding, doch mit 500 Metern Länge angeblich die längste Seebrücke Europas.

Abseits des Strandrummels entdeckten wir bei unserem ersten Usedomurlaub ein stilles Dichtermuseum, in dem die Wohnatmosphäre einer Villa vor achtzig Jahren aufbewahrt ist. Maxim Gorki lebte im Sommer 1922 in der Villa Irmgard, um auf Anraten Lenins in der salzigen Ostseeluft eine Lungenkrankheit auszukurieren. Hier empfing er Tolstoi, vertrieb sich die Zeit mit Kartenspielen, Bumerangwerfen im Garten und schrieb an seiner Autobiographie. Gorkis Wohnräume im Paterre blieben erhalten, weil der Hausbesitzer noch lebte, als nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Protzenbad Heringsdorf ein Erholungszentrum für sowjetischen Streitkräfte wurde. Seitdem ist die Villa Gedenkstätte.

Auch Heinrich Mann, Kurt Tucholsky und Victor Klemperer erholten sich in den Zwanzigerjahren in Heringsdorf. Robert Musil wohnte damals im noch dörflichen Koserow und beobachtete fasziniert die Fischer, wie sie ihre Netze flickten und am Strand Würmer auf Angeln zogen: "Es ist ein stilles, feines Tun, wobei die groben Fischerfinger leise wie auf Fußspitzen gehn. Man muß sehr auf die Sache achten. Bei schönem Wetter wölbt sich der dunkelblaue Himmel darüber, und die Möwen kreisen hoch über Land wie weiße Schwalben." Heutzutage rechnet sich die Fischerei kaum noch, allenfalls als Familienbetrieb mit einer Räucherkate an einer belebten Strandpromenade. Die qualmenden Holzschuppen in den Dünen, aus denen der nach Buchenholzrauch und Fett duftende Morgenfang an die Badegäste verkauft wird, sind den Besitzern der teuren Strandhotels freilich ein Dorn im Auge. Für die Kinder der Badegäste aber, die das Märchen vom Fischer und seiner Frau kennen, ist es ein großartiges Schauspiel, wenn früh die Boote auf den flachen Strand gezogen werden und Fischersfrauen mit großen Schüsseln bewaffnet aus den Dünen laufen, um die zappelnde Beute zum Räuchern abzuholen.

Die strohgedeckten Salzhütten von Koserow, wo früher Heringe eingesalzen wurden, haben als Andenkenläden überlebt. Vor dem benachbarten Streckelsberg - mit 60 Metern der höchste der Insel - lag der Sage nach im Mittelalter die versunkene Stadt Vineta. Heutige Archäologen vermuten den Ursprung dieses vitalen literarischen Mythos allerdings eher auf der polnischen Nachbarinsel Wollin. Literarischen Ruhm erwarb sich das ärmliche Koserow auch durch seinen Pfarrer Wilhelm Meinhold, dessen Gedichte Goethe lobte. 1843 erregte Meinholds Roman Die Bernsteinhexe über Usedom hinaus großes Aufsehen. Der Autor hatte die angebliche Dokumentation eines spannenden Hexenprozesses aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges so überzeugend erfunden, dass angesehen Theologen und Philologen sie für echt hielten. Als der Verfasser öffentlich eingestand, er habe alles frei erdichtet, wurde er der Lüge bezichtigt. Um dies zu widerlegen, publizierte Meinhold eine Fassung des Stoffes, die er bereits zwanzig Jahre früher geschrieben hatte: Die Hexe von Coserow. Diese straffe Novelle liegt nun als handliches Büchlein wieder gedruckt vor, und man kann damit am Strandstrand neben dem Schiffsanleger von Koserow gut einen netten halben Tag zubringen.

Ebenso als Strandlektüre zu empfehlen, nicht nur auf Usedom, ist Hans Werner Richters früher Roman Spuren im Sand, der 1953 erschien und in diesem Bücherfrühjahr neu verlegt wurde. Er erzählt von einer Jugend im aufstrebenden Seebad Bansin, wo der Mentor der Gruppe 47 aufwuchs und auch begraben sein wollte. Spuren im Sand ist ein mit liebevoller Ironie erzähltes und zugleich todtrauriges Buch über die Pubertät eines Taugenichts, über seine unglückliche ersten Liebe und tollpatschige Versuche, einen Brotberuf zu ergreifen. Beiläufig lernt der Leser den Badetourismus vor hundert Jahren aus der Sicht der Einheimischen kennen, die hart daran arbeiteten, den Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Nicht umsonst kursierte unter ihnen das Sprichwort: "Du büst so dumm als ein Badegast."

Der Erste Weltkrieg stürzte den jungen Wirtschaftszweig in eine erste schwere Krise, die Badegäste blieben aus und die eingezogenen Männer kehrten nicht oder gebrochen nachhause zurück. In den Zwanzigerjahren kam es in den Ferienorten zu lautstarken politischen Kundgebungen. Hans Werner Richters Heimatort zählte zu den antisemitischen Seebädern, deren Vermieter ihre Absteigen in Annoncen als "christliche Häuser" anpriesen, um Juden fernzuhalten. Usedom hat leider auch eine furchtbare Volkspoesie hervorgebracht: "In Zinnowitz, am Ostseestrand / Ist unbeflecktes deutsches Land! Dort wehn die alten Flaggen / Kein Jude darf den Ort entweih´n - / und wagt sich trotzdem einer rein, / Der kriegt ´ne Nuß zu knacken!" - nachzulesen in Frank Bajohr kulturhistorischer Studie Unser Hotel ist judenfrei über den Bäder-Antisemitismus in Deutschland.

Hans Werner Richter, der eher zufällig in den Beruf des Buchhändlers hineinrutschte, zog es in den Zwanzigerjahren aus der provinziellen Enge nach Berlin, wo er sich vorübergehend den Kommunisten anschloß - mit dieser Loslösung von der Familie endet sein autobiographischer Roman Spuren im Sand. In späteren Essays und Erzählungen hat er die Bansiner Familienchronik bis in die Nazizeit und die DDR-Zeit fortgeschrieben, so in Blinder Alarm. Geschichten aus Bansin (1970), Reisen durch meine Zeit (1989) und Deutschland, deine Pommern (1991). In Richters Briefen finden sich bewegende Zeugnisse der Repressionen, denen seine Angehörigen während der Zwangskollektivierung des Badevergnügens in den Fünfzigerjahren ausgesetzt waren. Als im August 1961 die Mauer gebaut wurde, befand sich Hans Werner Richter mit bundesdeutschem Paß gerade auf Familienbesuch in Bansin, später wurden seine Gesuche um Einreise in die DDR wiederholt abgelehnt. Diese Erfahrungen haben die politischen Aktivitäten des umtriebigen Autors mitbestimmt, der zusammen mit Kollegen seiner Gruppe 47 zu den leidenschaftlichen Unterstützern Willy Brandts und der Entspannungspolitik gehörte.

Seit gut drei Jahren gibt es in Bansin ein Hans-Werner-Richter-Haus im hübsch renovierten ehemaligen Feuerwehrspritzenhaus hinter den Dünen. Die Gemeindebibliothek ist dort eingezogen, mit der Kurkarte kann man Richters amüsante und lehrreiche Bücher über das Bansiner Leben ausleihen und an den Strand nehmen. Sein Münchner Schreibtisch ist hier zu musealen Ehren gelangt, ebenso das Messingglöckchen, mit dem er die Situngen der Gruppe 47 einläutete. An den Wänden hängen Grafiken des Freundes Günter Grass, der im Haus schon mal gelesen hat, und auch die im nahen Ahlbeck geborene Publizistin Carola Stern war zu Gast. Und selbstverständlich weiß die nette Bibliothekarin, in welchem Haus Richter aufwuchs: In der hübsch weiß und blau angemalte Villa Paula an der Hauptstraße, geziert mit dem Spruch: "Ob Ost, ob West, to Hus is best."

Im letzten Jahr wohnten wir in Bansin, diesmal wollen wir unser Ferienglück in Ahlbeck versuchen. Auf dem Nachttisch liegt das neue Standardwerk für reisende Literaturliebhaber in Mecklenburg-Vorpommern: Auf Dichters Spuren... - zugegeben, der Titel ist nicht orginell, aber die Verbindung von Autorenporträts, Routenvorschlägen und einem umfänglichen Ortslexikon vorbildlich. Dort ist unter Ahlbeck mit genauer Urlaubsadresse nur ein einziger Besucher vermerkt, kein geringerer als Thomas Mann, der im August 1924 ein paar Tage auf Usedom verbrachte. Hochzufrieden schrieb er, er habe nach dem Morgenbade stets "stramm" am seinem Zauberberg gearbeitet. Ein neuer Prachtband über Bäderarchitektur in Mecklenburg-Vorpommern ergänzt, der österreichische Kaiser Franz Joseph habe im prächtigen Ahlbecker Hof an der Strandpromenade logiert: Mit Blick aufs Meer und die wunderschöne alte Seebrücke würden wir auch gern wohnen, aber leider ist solcher Luxus für uns arme Skribenten unbezahlbar.

Von Ahlbeck könnte man mit der Bäderbahn, die im Halbstundentakt hinter den Dünen verkehrt, einen Tagesausflug nach nach Peenemünde unternehmen, wo Hitler in der Heeresversuchsanstalt seine Wunderraketen bauen ließ. Dafür wurde Usedom zeitweilig zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Heute befindet sich in Peenemünde eine Art Technikmuseum, ein beliebter Zeitvertreib für Familien, aber Raketen und U-Boote wollen wir uns im Urlaub ersparen. Statt dessen können wir von Ahlbeck zu Fuß über die polnische Grenze nach Swinoujsce laufen, ins einstige Swinemünde. Theodor Fontane hat dort einige Jugendjahre verlebt, und der Dichter Adelbert vom Chamisso nach seiner dreijährigen Weltreise - mehr darüber im nächsten literaturblatt - wieder deutschen Boden betreten. Eine richtige Hafenstadt! Ich sehe uns schon schon bei den Schiffen stehen und jeden von einer anderen Insel träumen.

Literaturhinweise:

Gunnar Müller-Waldeck / Jürgen Grambow: Auf Dichters Spuren. Literarischer Wegweiser durch Mecklenburg-Vorpommern. Hinstorff Verlag 1993, 416 Seiten, 19,90 Euro.

Renate Seydel (Hg.): Usedom. Ein Lesebuch. Ullstein Taschenbuch 24425 (1998), 448 Seiten, 8.95 Euro

Jürgen Grambow / Wolfgang Müns (Hg.): Bernsteinhexe und Kaiserbäder. Lesen von Usedom. Hinstorff Verlag, 2. Aufl. 2003, 248 Seiten, 9,90 Euro.

Wilhelm Meinhold: Die Hexe von Coserow. Eine Novelle. Hinstorff Verlag, 2. Aufl. 2004, 72 Seiten, 7,70 Euro.

Hans Werner Richter: Spuren im Sand. Roman einer Jugend. Steidl Verlag 2004, 368 Seiten,

Frank Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, 236 Seiten, S. Fischer, 236 Seiten, 12,90 Euro.

Carola Stern: In den Netzen der Erinnerung. Reinbek 1986. Rowohlt TB 12227, 8.%0 Euro

Reno Stutz / Thomas Grundner: Bäderarchitektur in Mecklenburg-Vorpommern, Hinstorff Verlag 2004, 120 Seiten mit 80 Abbildungen, 19,90 Euro.

Erstdruck im LITERATURBLATT FÜR BADEN UND WÜRTTEMBERG Nr. 4/2004


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